Arnold Schönbergs „Moses und Aron“

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Stuttgart, 20/07/2003

Mit dem „Tanz ums Goldene Kalb“ als Zentralszene im zweiten Akt von Arnold Schönbergs unvollendet hinterlassener Oper „Moses und Aron“ stellt das Musiktheater eine der größten Herausforderungen für den Tanz dar – umfangreicher (Dauer: 25 Minuten) als etwa in „Tannhäuser“, „Faust“, „Carmen“ oder „La Gioconda“.

In der Inhaltsangabe des Programmheftes zur Stuttgarter Neuinszenierung heißt es dazu: „Mehr und mehr geraten die Menschen in den Sog dieses Bildes. Es zeigt die Zurichtung von Opfertieren, den Tanz der Schlächter, die Schlachtung des Viehs, Brandopfer und Gelage, die Wunderheilung einer Kranken, Bettler, die ihre letzte Habe und sterbende Greise, die ihre letzten Augenblicke opfern, den Ritt der Stammesfürsten und ihren Mord an einem gegen den Götzendienst protestierenden Jüngling. Dann steigert sich das Geschehen über Trunkenheit und Tanz zu einem Ritualmord an vier nackten Jungfrauen. Szenen der Verwüstung und des Selbstmordes münden in eine erotische Orgie.“

Schönberg selbst strebte eine möglichst realistische, ja naturalistische Darstellung dieser Aktionen an. Daran haben sich seit der von Jaroslav Berger choreografierten Uraufführung 1957 in Zürich zahlreiche Choreografen die Zähne ausgebissen, darunter so prominente Vertreter wie Dore Hoyer an der Städtischen Oper in Berlin, auch schon John Cranko bei der Stuttgarter Erstaufführung 1971 (Gerhard R. Koch in der FAZ: „John Crankos Choreografie mit den Nachwuchskräften des Noverre-Balletts wirkt ein wenig konzeptionslos und wie mit der linken Hand gemacht“) – auch beispielsweise John Neumeier in Frankfurt, Harald Wandtke in Dresden, Johann Kresnik in Salzburg, Brian Macdonald in Nürnberg, Erich Walter in Düsseldorf, Youri Vámos in München und Ruth Berghaus an der Berliner Lindenoper.

Die Stuttgarter Neuproduktion verzichtet auf die Mitwirkung eines Choreografen. Dort heißt es auf dem Besetzungszettel: Inszenierung und Dramaturgie Jossie Wieler und Sergio Morabito – auch taucht das Ballett nicht neben den Kollektiven der Chöre aus Stuttgart und Krakau auf. Unter dem Titel „Orgien im Kopf“ hat Werner Müller-Grimmel in seiner Kritik beschrieben, wie Wieler und Morabito mit dieser problematischen Szene umgegangen sind: „Fast einen Akt lang schauen wir da frontal auf ein Kinopublikum, das sich fasziniert einen von Aron vorgeführten, für uns nicht sichtbaren Film ansieht. Schönbergs Musik mutiert so zum Soundtrack einer imaginären Lichtspielszene, deren Inhalte wir nur auf Grund der minutiös choreografierten Publikumsreaktionen erraten können. Dabei hat Wieler sich nicht gescheut, die unter Lothar Zagroseks Leitung packend aus dem Graben tönenden Orchesterklänge durch zusätzliche Tonbandgeräusche zu intensivieren. Und zusätzlich geraten einzelne Zuschauer in Bewegung, wippen zu orgiastischen Blechbläserrhythmen und schrillen Holzbläserpassagen hypnotisiert mit den Füssen, geben lauthals Kommentare ab, springen auf, befummeln sich und gehen sich schließlich gegenseitig an die Wäsche, während Aron hinten am Projektor eine Zigarette nach der anderen raucht.“

Die von der Mehrzahl der Kritiker uneingeschränkt akklamierte Lösung dieses schwierigen Problems stellt die letzte Konsequenz des zentralen Gebots von Schönbergs „Moses und Aron“ da, das da lautet: Du sollst Dir kein Bild machen! Sie stellt gleichzeitig auch die Weiterführung von Richard Wagners Forderung nach dem unsichtbaren Theater da. Womit wir beim unsichtbaren Ballett angelangt sind. In der Tat: Wie viel Ungemach wäre uns erspart geblieben, wenn man die Choreografen schon früher mit der Möglichkeit unsichtbarer Ballette konfrontiert hätte. Aber darauf mussten erst einmal zwei so ausgepichte Opernprofis wie Jossi Wieler und Sergio Morabito kommen! Bleibt nur zu hoffen, dass die heute allenthalben ihr Unwesen treibenden Theater-Sparkommissare nicht auf die Idee kommen, Wieler/Morabito nachzueifern. Denn dann könnten wir auf die Gattung Tanz im Theater gleich ganz verzichten!

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