Die Bilanz der Spielzeit 2002/03

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Stuttgart, 11/08/2003

Ein durchwachsenes, sehr durchwachsenes Jahr, diese Spielzeit 2002/03! Auf der einen Seite ein absoluter Höhepunkt, wie es ihn von diesem Gewicht nie zuvor in der deutschen Ballettgeschichte gegeben hat (Noverre würde staunen!). Auf der anderen viel Mittelmaß, Ärgernisse und Enttäuschungen. Wobei zu bedenken ist, dass dies eine persönliche, eine sehr persönliche Bewertung ist. Doch schön der Reihe nach! Das internationale Spitzenereignis: die Jubiläums-Weißen-Nächte von St. Petersburg mit der Präsentation des Hamburger Balletts, des Royal Ballet und des New York City Ballet – zusätzlich zu den Eigenbeiträgen des Mariinsky-Balletts. Das deutsche Spitzenereignis: die Einladung an das Hamburger Ballett aus eben diesem Anlass zu einem einwöchigen Gastspiel im St. Petersburger Mariinsky-Theater mit den drei Neumeier-Balletten „Nijinsky“, „Die Möwe“ und „Die Kameliendame“.

Die beste internationale Ballettkompanie: ??? Die beste deutsche Ballettkompanie: a) das Hamburger Ballett – ob seines kulturträchtigen Images – b) das Stuttgarter Ballett – ob seiner choreografischen Entdeckerneugierde und seiner tänzerischen Explosivkraft. Die wichtigste Ballettkreation: John Neumeiers „Préludes CV“. Der hoffnungsvollste Nachwuchschoreograf: Marco Goecke mit „Blushing“. Die stetige und kontinuierliche Qualifizierung einer Kompanie: das ballettmainz von Martin Schläpfer, das Zürcher Ballett (inklusive der Zürich Juniors) von Heinz Spoerli und das Ballett der Deutschen Oper am Rhein unter Youri Vámos. Der qualitativ wichtigste Import: Jerome Robbins‘ „Dances at a Gathering“ beim Stuttgarter Ballett. Die beglückendste Ausgrabung: Jean-Philippe Rameaus Opéra-ballet „Les Indes galantes“ in Zürich. Die interessanteste Tänzerin: Marlucia do Amaral als Feuervogel in Mainz. Die faszinierendsten Tänzer: Gregor Seyffert als Nijinsky in „Clown Gottes“ und Giovanni di Palma in „Sacre du printemps I“ in Leipzig. Die perspektiverweiterndste Fernsehproduktion: „Der Choreograf und sein Architekt – Frédéric Flamand und Jean Nouvel“ bei Arte. Die appetitanregendste DVD: „Heinz Spoerli‘s Zürcher Ballett“. Die wichtigste Buchveröffentlichung: Charles M. Joseph, „Stravinsky & Balanchine – A Journey of Invention“.

Und nun also die Liste der Unerfreulichkeiten! Doch wo beginnen? Mit der Stagnation der großen Kompanien an der Deutschen Oper Berlin, an der Wiener Staatsoper und an den Opernhäusern von Leipzig und Dresden? Mit der fortzeugenden Verunsicherung in Berlin? Mit der abrupten Trennung von Pierre Wyss in Karlsruhe? Mit dem unverständlichen Import der verschlissenen Produktion von Makarovas „La Bayadère“ in Hamburg? Mit der deprimierenden Kreation „Visitors Only“ von Meg Stuart und ihrer Damaged Gods in Zürich (denen ich den Vorwurf mache, mir zwei Stunden meines Lebens geraubt zu haben)? Ach, so könnte ich noch eine Weile fortfahren (zum Beispiel mit Ismail Ivos „Mapplethorpe“, mit Marcia Haydées Unfähigkeit, aufhören zu können, mit dem blamablen Kölner Verzicht auf einen eigenständigen Beitrag zur deutschen Tanzszene, mit Uwe Scholzens chronischen Absencen, Die resignierende Nicht-Reaktion der meisten Kollegen auf die eklatante Unmusikalität so vieler Choreografen und, und, und …).

Das schockierendste Erlebnis für mich persönlich war indessen die schmähliche Trennung der Frankfurter Allgemeinen Zeitung – für mich die beste deutsche Tageszeitung und eine der großen Zeitungen der Welt – von Jochen Schmidt. Der hatte immerhin der FAZ weit über seinen unmittelbaren Vorgänger Otto Friedrich Regner hinaus zu einem von der internationalen Tanzwelt hoch respektierten Ruf verholfen. Ein regelrechter Schurkenstreich des verantwortlichen Herausgebers Frank Schirrmacher! Und leider ein weiteres Zeichen für den alarmierenden Rückgang des Interesses der deutschen Feuilletonchefs an einer qualifizierten Tanzberichterstattung jenseits der pflichtschuldigen Wahrnehmung lokaler Termine. Damit verabschiede ich mich in die Ferien und rechne damit im September wieder zur Stelle zu sein! Das wird dann wohl die Zürcher Spoerli-Premiere am 7.9. sein. Vorher nächste Woche ein paar Tage Wolfgangsee.

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