„Die Möwe“ und „Don Q“

oe
St. Petersburg, 13/07/2003

Die vierte „Möwe“ als 14-Uhr-Vorstellung vor mäßig gefülltem Haus. Das Publikum bunt gemischt – auffallend viele lautstark sich in Szene setzende Japaner. Die Leute sind spürbar befremdet: der sehr lange hinausgezögerte Anfang, dann die percussionsgepeitschte Einlage „Die Seele der Möwe“, mit deren stilistischen Reminiszenzen die Wenigsten etwas anfangen können. In den folgenden Szenen erwärmt sich das Interesse ein bisschen – aber eben nur ein bisschen. Ich registriere eine gewisse Ratlosigkeit.

Im zweiten Teil dann ebenfalls eher Staunen als engagiertes Mitgehen – und ein zu früh vermuteter Schluss mit zögernd einsetzendem und rasch wieder vertröpfeltem Applaus als die Leute merken, dass es noch weitergeht. Und dann die große Überraschung: sehr starker, wieder rhythmisch skandierter Schlussapplaus, lange anhaltend, so dass Neumeier, der sich keineswegs danach drängt, dreimal herbeigeholt wird.

Die Russen: ein Rätsel! Ob sie überhaupt verstanden haben, wie intelligent Neumeier den Transfer Tschechows aus dem Schauspiel- ins Ballettmilieu bewerkstelligt hat? Ich habe den Eindruck, dass bei all ihrer Vertrautheit mit Tschechow die Subtilitäten der Dramaturgie sie überfordern. Umso mehr bin ich bei jedem neuen Sehen hingerissen und entdecke immer weitere Feinheiten in der Zeichnung der Charaktere. Und auch in der Unterschiedlichkeit der einzelnen Rolleninterpretationen.

An diesem Nachmittag ist Jiří Bubeníček der viel reifere und differenziertere Kostja als es der jüngere, stürmischere, idealistischere Ivan Urban in der Premiere war. Als seine Mutter Irina war Anna Polikarpova die verzicktere Altballerina, während Laura Cazzaniga ihr wesentlich wärmere, mütterliche Züge leiht. Lloyd Riggins ist diesmal Trigorin, der Ballettmeister alter Schule, aber Otto Bubeníček war der viel zerrissenere Charakter – hin und her lavierend als langjähriger Liebhaber Irinas, doch hingerissen von der Jugend und Schönheit Ninas, die Heather Jurgensen in beiden Vorstellungen mit einem staunenden jugendlichen Charme ausstattet, der einfach unwiderstehlich ist. Sehr beeindruckt war ich von der liebenswerten Schusseligkeit von Jacek Bres als Kostjas Onkel Pjotr. Und tief beeindruckt, wie jedes Mal, von der Innigkeit, mit der Peter Dingle seine Mascha umwirbt, die ihr Herz so total an Kostja verloren hat.

Ach, es ist schon eine traurige Geschichte, die Neumeier hier erzählt, eine Komödie, ganz in Melancholie getaucht. Und wiederum bewundere ich die Stimmigkeit der Musikauswahl, die Neumeier für die einzelnen Szenen getroffen hat (wobei mich Schostakowitschs „Götterdämmerungs“-Reminiszenzen jedes Mal neu frappieren). Es ist ein so ungemein stilles Ballett – vielleicht Neumeiers reifstes überhaupt (bisher): Ballett-Feinkost vom Feinsten!

Am Abend dann „Don Quichotte“, getanzt von Konstantin Tachkines St. Petersburger Ballett-Theater in der Musikkomödie, einer richtigen Pralinen-Schachtel von Theater in einem ehemaligen Adelspalais am Platz der Künste. Im für hiesige Verhältnisse luxuriös aufgemachten Programmheft (120 Rubel gleich vier Euro) ausnahmsweise alle ausgeschriebenen Vornamen der Solisten samt ihren Biografien, aber kein Wort darüber, wer denn nun dieser Gospodin Tachkine ist. Bei der 1994 gegründeten, ausschließlich mit Klassikern in der Welt herumgondelnden 70-Tänzer-Kompanie handelt es sich offenbar um eine jener Tingeltruppen, die uns von Zeit zu Zeit heimsuchen – „aus St. Petersburg, der Heimat des klassischen russischen Balletts“. Der nicht sehr große Saal proppenvoll, ganze Horden von japanischen und deutschen Touristen. Von wem die Einstudierung stammt, ist nicht bekannt. Sie basiert auf der Gorsky-Version von 1902 mit Ergänzungen von Nina Anissimowa und Fyodor Lopuchow. Eine hübsch operettige Ausstattung. Getanzt wird mit Gusto und Bravour und gemimt, dass sich die Balken biegen. Die Kitri von Asiy Lukmanova wäre wohl eine Bereicherung auch für unsere Kompanien der B-Klasse, der Basil von Sergey Pevnev wohl weniger (er tut sich ziemlich schwer mit den einarmigen Lifts), der Don stakst wie gehabt durchs Geschehen und Vlaimir Zenzinov macht als Sancho Pansa ganz auf Bruder Lustig. Die Tänzer stieben mit Karacho über die Bühne. Das Publikum ist hingerissen und oe sucht in der Pause das Weite.

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