Hinreißender Eskapismus

Das Tanzmusical „42nd Street“ in Stuttgart

Stuttgart, 21/11/2003

Wer den melodramatischen Pop-Opern oder Andrew Lloyd Webber noch nie über den Weg getraut hat, wird sich über den glitzernden Neuzugang unter den deutschen Großmusicals freuen: „42nd Street“ ist ein altmodisches Stepptanzmusical mit klassischer, swingender Broadway-Musik, eine aufwendige Ausstattungsrevue, bei der die Anzahl von Glitzerkostümen und die dramaturgische Plausibilität umgekehrt proportional sind. Inhalt und Tiefgang aber sind hier gar nicht gefragt: Es geht um großartige Tanzszenen, um Chorus Girls in allen Regenbogenfarben, um blinkende Lichter und 72 steppende Beine. „42nd Street“ ist wunderbare Unterhaltung und will auch überhaupt nicht mehr sein. Tanzmusicals sind selten intellektuelle Meisterwerke, und auch dieses liegt im Wettbewerb um die dünnste Handlung aller Zeiten gut im Rennen.

Wir befinden uns in den hungrigen dreißiger Jahren des Börsenkrachs, am Broadway wird eine Musicalrevue geprobt. Es treten auf: die egozentrische Diva, der von seiner Arbeit besessene Regisseur, ein kalauerndes Autorenduo, der eitle Tenor - und Peggy Sawyer, das hübsche Tanzmäuschen aus der Provinz, das über Nacht zum Star wird. Es sind typische Klischeefiguren aus dem Hollywoodmusical der dreißiger Jahre; die hohe Kunst besteht darin, sie mit Anstand zum Leben zu erwecken, mit Ironie und Leichtigkeit. Genau das schafft Karin Seyfried als entzückende Peggy Sawyer - sie bringt neben Gesang, Tanz und frischem Charme auch noch ein wunderbares komisches Timing mit. Jens Janke stattet Billy Lawlor, den männlichen Star der Broadway-Show, mit einem schmachtenden Tenor und genau der richtigen Portion Ironie aus. Kevin Tarte fehlt zum unnahbaren Broadway-Regisseur das entscheidende Quäntchen Charisma, auch Isabel Dörfler spielt die zickende Diva ein wenig einseitig, wofür ihre tolle Stimme entschädigt.

Scheinbar ist die leichte Unterhaltung gar nicht so leicht - unter der Regie von Stage-Holding-Hausregisseur Eddy Habbema übertreiben manche Darsteller gnadenlos, andere bleiben eher hölzern. Wenn man's recht bedenkt, dann feuerten die nicht als Schauspieler ausgebildeten Tänzer des Stuttgarter Balletts damals in „On Your Toes“, dem letzten Tanzmusical dieser Art in Stuttgart, ihre Pointen witziger und trockener ab (zugegeben - sie hatten auch bessere). Gesteppt aber wird bei „42nd Street“ auf allerfeinstem Broadway-Niveau, nicht nur von den Solisten, sondern vor allem vom großen und sehr homogenen Ensemble. Die größtenteils jungen und sensationell guten Tänzer überzeugen einen mühelos davon, dass ihnen die Show noch wesentlich mehr Spaß macht als dem jubelnden Publikum. Sie steppen ständig und überall, ob auf Klavieren, auf überdimensionalen Münzen oder zur legendären Schlussnummer auf einer riesigen, flimmernden Showtreppe, die sich auf der gesamten Bühnenbreite von hinten nach vorne schiebt. Perfekt sieht es bei Jens Janke oder Wolf Wrobel aus, bei Karin Seyfried hört es sich noch nicht ganz so blitzsauber an, wie es ihre Rolle als beste Tänzerin der Show verlangen würde.

Die Stuttgarter Inszenierung beruht auf dem Broadway-Revival von 2001. Die großartige Show-Choreografie stammt vom Amerikaner Randy Skinner, der bei der Uraufführung im Jahr 1980 einer der Assistenten von Originalchoreograf Gower Champion war. Nach dessen originellen Ideen und Vorlagen hat Skinner die großen Stepp- und Revuenummern gestaltet, ob kitschig (wie die Mohnblumen auf Spitzenschuhen), ob nostalgisch (wie die kaleidoskopartigen Formationen der Chorus Girls auf dem Boden, die man in einem riesigen Spiegel über der Bühne sieht) oder einfach atemberaubend, wie die faszinierend aufgebaute Steppnummer „Jetzt rollt der Rubel“ oder der Titelsong mit seiner New Yorker Straßenszene. Die charmanten 30er-Jahre-Schlager von Harry Warren und Al Dubin wurden komplett ins Deutsche übersetzt, ihr Tonfall knüpft liebevoll an die Ufa-Filme und Tonfilmoperetten an. Was kümmert's uns, wenn ein Musical wenig bis gar kein Hirn hat - so lange es so gut gemacht ist wie dieses, und so lange so brillant getanzt wird.

Infos zu „42nd Street“ unter www.stageholding.de

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