Katja Erfurth und Annegret Thiemann: „Nach dem Westen“

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Dresden, 31/10/2003

Im Rahmen des „Dresdner TANZherbst 2003“ mit dem Untertitel „Choreografien von Frauen“ im Sozietätstheater die Uraufführung „Nach dem Westen“ von Katja Erfurth und Annegret Thiemann, zwei ehemaligen Absolventinnen der Palucca-Schule, die sich vorher schon der drei anderen Himmelsrichtungen angenommen hatten. „Nach dem Westen“ ist kein Produkt der augenblicklichen Ostalgie-Welle, sondern will die geografischen Grenzen sprengen, „beschreibt das immerwährende Suchen, Aufbrechen, Fortschreiten und Bewegen ... eine Spirale ohne Ende".

Das pausenlose 65-Minuten-Stück mit den beiden streng in schwarz gekleideten Tänzerinnen und zwei Stühlen auf leerer Bühne wird akkompagniert von einer vielgestaltigen Geräusch- und Video-Collage. Deren Klänge und Bilder sind allerdings oft interessanter als die strikten Rituale der beiden Damen. Sie verdichten sich gegen Ende zu unverkennbar westlichen Assoziationen, bis hin zum Feuersturm der gegenwärtig in Kalifornien wütenden Waldbrände und argentinischen Tangoklängen nebst lauter multiplen Freiheitsstatuen.

Minutenlang stehen die beiden Damen bewegungslos nebeneinander und starren ins Publikum. Sie berühren auch in der folgenden Stunde kaum einander, und wenn dann ein einziges Mal ihre Stirnen leicht aneinander lehnen, ist das auch schon der absolute Höhepunkt. Aus der Erstarrung lösen sich einzelne schwungvolle Armbewegungen, immer parallel, nur ausnahmsweise sich komplementär ergänzend. So geht es dann auch weiter via exzessiv praktizierter Stuhlakrobatik. Lange dauert es, bis sie sich frei im Raum bewegen. Aber was heißt hier frei? Immer handelt es sich um parallel oder ergänzend ausgeführte rituelle Gesten. Nie löst sich ihre rosenkranzhafte Zelebration in befreiendem, fließenden Tanz auf, nie kommt es zu einem Sprung, nie zu einer raschen Rotation, nie blitzt eine humoristische Pointe auf.

Das Ganze wirkt wie ein rigoroses Exerzitium im Dienste der Ordo einer Nonnenschwesternschaft, eine Art Hommage an die nachträglich heiliggesprochene priesterliche Oberin des modernen Ausdruckstanzes. Insofern handelt es sich um ein echtes Produkt der Dresdner Tradition als Versuch der Vergangenheitsbewältigung. Vielleicht ist das ja die bewusste „Spirale“, von der die beiden Damen sprechen, die sie immer wieder zurückführt an den Ort, von dem der Ausdruckstanz seinerzeit aufgebrochen ist. Wonach ich mir gut vorstellen könnte, dass sie als die ersten beiden Performerinnen eingeladen werden, in der demnächst wiedererstandenen – und nicht umsonst so genannten – Dresdner Frauenkirche die tänzerische Weihe zu zelebrieren.

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