„Krokodil im Schwanensee“: das Buch zur Ausstellung

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Stuttgart, 17/10/2003

Dies ist kein Ausstellungskatalog, sondern „Das Buch zur gleichnamigen Ausstellung“ der Berliner Akademie der Künste (siehe koeglerjournal: Berlin, 03.10.2003). Die Ausstellung selbst ist ja erfreulich freigehalten von allen didaktischen Hintergrundinformationen, sondern beschränkt sich im Wesentlichen auf Bildlegenden. Das mag man in Einzelfällen bedauern, es befreit den Rundgang indessen von allem theoretischen Ballast. Der wird hier nun auf 286 Seiten (plus gesondert beigelegtem Register) nachgeliefert – allerdings nicht als Ballast, sondern als kompakt aufbereitete, klar strukturierte, ungemein detailreiche Geschichte des Tanzes in Deutschland seit 1945 – und zwar in Deutschland West und Deutschland Ost, bevor es im letzten Kapitel um „Die Tanzszene im wieder vereinten Deutschland seit 1990“ geht.

Da scheint nichts ausgelassen und nichts übersehen, und den drei für die einzelnen, chronologisch gegliederten Zeitabschnitte verantwortlichen Kuratoren Hedwig Müller, Ralf Stabel und Patricia Stöckemann ist das Kompliment zu machen, dass es ihnen gelungen ist, die ungeheuerliche Stofffülle ausgesprochen benutzerfreundlich zu präsentieren – fair ausgewogen in den Proportionen zwischen West und Ost. Was Stabel an Informationen liefert, ist stupend – nicht zuletzt in dem Kapitel über „Tänzerrenten“. Geradezu sensationell aber sind seine Enthüllungen über die erpresserischen Methoden der Stasi gegenüber Tänzern, um sie als Informanten gefügig zu machen. Dankbar bin ich ihm auch für die Gerechtigkeit, die er Grita Krätke widerfahren lässt (und schmunzelnd habe ich zur Kenntnis genommen, wie er die ideologischen Verirrungen einiger Funktionäre leicht ironisiert). Seinen beiden westlichen Kolleginnen ist er übrigens einen Schritt voraus, indem er auch auf das Fernsehen, die Publizistik und die Bemühungen um die Etablierung der Tanzwissenschaft in der DDR eingeht. Jetzt wünschte ich mir von ihm lediglich noch eine Habilitationsschrift über den Tanz in der DDR, in der er sich dann auch noch eingehender mit den Machenschaften solcher Doktrinäre wie Rebling, Gommlich, Burkat, Hoerisch und Goldschmidt und wohl auch Köllinger befassen könnte.

Nichts als Respekt habe ich aber auch vor den akribischen Recherchen Stöckemanns, die detailliert über Vorkommnisse berichtet (Orlikowsky, Georgi!), die lange vor ihrer Geburt geschehen sind. Nur in einem Fall irrt sie: Uwe Scholz schuf seine „Schöpfung“ nicht für Stuttgart, sondern für Zürich! Druckfehler habe ich nur auf den Seiten 93 und 249 entdeckt – und es fehlt ein Teil der Seite 91, dafür erscheint ein Teil der Seite 85 als Doublette). Gewünscht hätte ich mir auch zwei zusätzliche Sätze über die Pionierarbeit Beriozoffs in Stuttgart im Vorfeld der Direktion von Cranko – und gern hätte ich einen Absatz über Lilo Gruber geopfert, im Austausch für einen Hinweis auf die Arbeit von Gertrud Steinweg (deren Einstudierungen an der Komischen Oper von „Scheherazade“, „Petruschka“ und „Chout“ zu meinen stärksten Erinnerungen im Berlin der fünfziger Jahre gehören – genau wie „Die Vogelscheuche“ von Anni Stoll-Peterka am Berliner Metropoltheater).

So ist hier als bleibendes Zeugnis dieser Ausstellung ein – nicht zuletzt durch sein gesondert beigegebenes akribisches Register – ausgesprochen benutzerfreundliches Standardwerk entstanden, wie es das bisher noch über keinen anderen Abschnitt der inzwischen immerhin rund vierhundertjährigen Geschichte des deutschen Theatertanzes gegeben hat. (Hedwig Müller, Ralf Stabel, Patricia Stöckemann: „Krokodil im Schwanensee – Tanz in Deutschland seit 1945“. Herausgegeben von der Akademie der Künste Berlin, Anabas-Verlag, Akademie der Künste, Frankfurt a.M./Berlin 2003, ISBN 3-87038-353-4, 286 Seiten – in der Ausstellung 25 Euro, Verlagsausgabe 34 Euro)

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