Theater in Berlin nach 1945

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Stuttgart, 05/08/2003

Lange nicht mehr so in Nostalgie geschwelgt wie beim Surfen durch die vier Bände „Theater in Berlin nach 1945“, erschienen bei Henschel in Berlin, als Kataloge der von der Stiftung Stadtmuseum Berlin – Museum Nicolaihaus ausgerichteten vier Ausstellungen zu eben diesem Thema (ISBN 3-89487-406-6 – dann mit den Schlussnummern 407-4, 408-2 und 409-9). Sie standen unter den Titeln Nachkriegszeit („Suche Nägel, biete gutes Theater!“), Musiktheater („Dass die Musik nicht ohne Wahrheit leben kann“), Schauspiel („Nun ist es Zeit, das Antlitz neu zu schaffen“) und Nach der Wende („Damit die Zeit nicht stehenbleibt“ (die letzte dieser Ausstellungen läuft noch bis 26. Oktober).

Es handelt sich um vier reich illustrierte quadratische Bände, mit Beiträgen diverser Autoren, hauptsächlich von den Ausstellungsmachern Lothar Schirmer, Ines Hahn, Bärbel Reißmann, Anne Franzkowiak, Bettina Machner, Angelika Ret und Jan Schad. Als ich den Titel las, dachte ich, dass es sich dabei um eine Chronik der Berliner Theaterpremieren handele. Die bieten die vier Bände nicht. Stattdessen behandeln sie Einzelaspekte des jeweiligen Obertitels. Der Tanz spielt dabei nur eine marginale Rolle. Die Artikel in dieser Sparte stammen von Angelika Ret, die sich als eine kompetente Kennerin der Berliner Nachkriegs-Tanzgeschichte erweist und mit vielen Informationen aufwartet, die mir – der ich so viele dieser Ereignisse miterlebt habe, weswegen ich denn auch immer wieder in Nostalgie versunken bin – neu sind. Wenn ich natürlich auch einige Akzente anders setzen würde (und mich besonders ihrer positiven Würdigung der Ära Lilo Gruber an der Staatsoper ganz und gar nicht anschließen kann – auch wegen der dubiosen Rolle, die Albert Burkat als parteioffizieller Dramaturg dabei gespielt hat), so gestehe ich ihr doch gerne zu, dass sie geradezu eine Meisterleistung in der Komprimierung und Konzentration der Stofffülle zustande gebracht hat. Sehr nützlich finde ich die einspaltigen biografischen Abrisse am Rand der meisten Seiten, die eine hoch willkommene Ergänzung faktischer Daten bieten.

Im ersten dieser Kataloge heißt der entsprechende Beitrag „Ballett als Ausdrucksform zum Aufspüren menschlicher Wahrheiten – Tanztheater“ und beleuchtet die Anfänge des Neuaufbaus der drei Ballettkompanien an den Opernhäusern der Stadt – namentlich unter Tatjana Gsovsky an der Staatsoper und Jens Keith an der Städtischen Oper, inklusive der sensationellen „Abraxas“-Einstudierung von Janine Charrat an der Kantstrasse. Vermisst habe ich hier den Namen von Gertrud Steinweg, die an der Komischen Oper zwei noch heute in meiner Erinnerung präsente, glanzvolle Produktionen von „Scheherazade“ und Prokofjews „Chout“ (beide mit dem unvergessenen Georg Groke) herausgebracht hat. Die Kurzbiografien sind unter anderen Ilse Meudtner, Liselotte Köster und Jockel Stahl gewidmet, Natascha Trofimowa und Gert Reinholm (doch wohl mit falschem Geburtsdatum, der Mann wird achtzig am 20. Dezember dieses Jahres), Daisy Spies und Jean Weidt.

Zum zweiten, dem Musiktheater gewidmeten Band, hat Angelika Ret zwei Artikel beigesteuert. Der erste heißt „Choreografische Sternstunden – Das Tanztheater der Komischen Oper“ (Sternstunden? Aber die Würdigung der Arbeit Tom Schillings geht in Ordnung – die Seitenbiografien befassen sich, etwas durcheinander geraten, mit Schilling, Hannelore Bey und Roland Gawlik, Arila Siegert, „Abraxas“ von Schilling, Tatjana Gsovsky und Bernd Köllinger). Der zweite firmiert unter „Abgelehnt nachzubeten, was andere choreografisch vorgebetet haben – Klassisches Ballett“.

Nach den sechs Seiten über das Tanztheater an der Komischen Oper stehen für die übrige Arbeit an den anderen Häusern und der Staatlichen Ballettschule ganze sechs weitere Seiten zur Verfügung – das halte ich für eine missliche Verzerrung der realen Verhältnisse (hier begegnet auch der Hymnus auf Lilo Gruber). Seitenbiografien sind nochmals Gert Reinholm gewidmet, der Staatlichen Ballettschule Berlin, Monika Lubitz, Lilo Gruber, Claus Schulz und dem Ballettensemble der Deutschen Oper. Unterbewertet, das heißt überhaupt nicht, wird das Wirken Grita Krätkes an der Staatsoper (choreografisch viel substanzhaltiger als das der Parteifunktionärin Gruber). Keine Erwähnung findet der Tanz im dritten, ganz dem Schauspiel gewidmeten Band. Angelika Ret schreibt hier über Kabarett in Berlin – Valeska Gert, eindeutig tanzmotiviert, kommt im Personenregister nicht vor.

„Nach der Wende“ gehen die Dinge auch im Tanz in Berlin gehörig durcheinander. Rets Kapitel heißt „Tanz – ein Schattendasein im Glanz der Oper? BerlinBallett – Komische Oper“. Ihre Sympathien gehören offenkundig der Komischen Oper (deren Ensemble ihr „zur Jahrtausendwende als homogenste Tanzkompanie Berlins“ gilt – ein Witz?) – die beiden anderen Häuser werden gerade noch am Rande erwähnt, das Hin-und-her-Gezerre um Gerhard Brunners BerlinBallett wird kurz kommentiert, die Zukunft des Tanzes in der neuen Bundeshauptstadt eher skeptisch beurteilt.

Vladimir Malakhovs Weihnachtspremiere letzten Jahres mit der „Bajadere“ wird immerhin noch sein „erfolgreicher Einstand als neuer Ballettchef“ (an der Staatsoper) attestiert. Als Seitenbiografien fungieren Jan Linkens, Angela Reinhardt (nicht identisch mit der Mitarbeiterin des www.tanznetz.de), Christine Camillo, Oliver Matz, Gregor Seyffert, Sylviane Bayard, Raimondo Rebeck und Steffi Scherzer. Entschieden tänzerischer geht es in Rets zweitem Beitrag zu, überschrieben „Poetisches Bildertheater – Showstil des 21. Jahrhunderts – Der Friedrichstadtpalast“. Prominentester unter den einer Seitenbiografie für würdig gehaltenen Persönlichkeiten ist Roland Gawlik, seit 1996/97 Ballettdirektor des Friedrichstadtpalast – mit seinen 66 Tänzern aus 14 Ländern eins der größten Ensembles in der Bundesrepublik. Ein vergleichbares Unternehmen in irgendeiner anderen deutschen Stadt ist mir nicht bekannt. Zur Nachahmung dringend empfohlen: Theater in Hamburg ..., ... in München, ... in Stuttgart, .... in Frankfurt, ... in Köln ....

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