Vor dem Aus? Der Tanz im Blindspiegel der deutschen Tageszeitungen

oe
Stuttgart, 23/07/2003

Müssen wir uns damit abfinden, dass sich die seriöse Tanzberichterstattung allmählich aus den deutschen Tageszeitungen verabschiedet? Dass sie nicht länger daran interessiert scheint, ihre Leser jenseits des lokalen Tellerrands über wichtige Ereignisse auf nationaler, geschweige denn internationaler Ebene zu informieren? Die schnöde Trennung der FAZ von ihrem ersten Tanzmann Jochen Schmidt hatte zwar die Wirkung eines Paukenschlags, aber der scheint inzwischen verhallt. Ich jedenfalls habe nichts von irgendwelchen Solidaritätsbekundungen mit dem Opfer dieses Coups gehört. Von dem inzwischen durchgesickert ist, dass es sich um eine perfide interredaktionelle Intrige gehandelt zu haben scheint.

Indessen häufen sich die Zeichen eines immer weiter um sich greifenden Zerfalls der Tanzberichterstattungskultur. Ein paar Beispiele! Das Hamburger Gastspiel in St. Petersburg, ein absolutes Top-Ereignis der Spielzeit, ist von den großen Tageszeitungen überhaupt nicht zur Kenntnis genommen worden – und von den Hamburger Lokalzeitungen gerade mal als Vollzugsmeldung gewürdigt worden. Die Premierenkritik über die Hamburger „Préludes CV“ – die Uraufführung eines abendfüllenden Balletts zu einer Auftragskomposition, choreografiert von John Neumeier, neben Pina Bausch und William Forsythe einer der drei international akkreditierten bei uns arbeitenden Choreografen, ist vergleichsweise – etwa in Relation zu den großen Opernpremieren in Berlin, Hamburg, München und Stuttgart – eher dünn ausgefallen, obwohl die Kritiker sich ziemlich einig waren, dass es sich um Neumeiers bisher avancierteste Kreation handelt.

Selbst Stuttgart, der Ort, der sich Neumeier von seinen Anfängen her nach wie vor engstens verbunden weiß, und wo für die kommende Spielzeit eine Neuinszenierung seiner „Endstation Sehnsucht“ angekündigt ist, hat sich mit seinem Bericht über die „Préludes CV“ eine geschlagene Woche Zeit gelassen. Aus Rache dafür, dass die Uraufführungen beim Stuttgarter Ballett von den überregionalen Tageszeitungen überhaupt nicht mehr zur Kenntnis genommen werden? So könnte man Beispiel um Beispiel dafür anführen, die in den Feuilletons unserer Zeitungen die Tanzberichterstattung – wenn ihr denn überhaupt noch Raum zugestanden wird – mehr und mehr marginalisiert wird.

Den neuesten Alarm hat wiederum die FAZ ausgelöst. Ausgerechnet die Zeitung, die jahre-, ja jahrzehntelang die internationale Karriere Hans van Manens von Premiere zu Premiere begleitet hat, hat sich mit einer lakonischen dpa-Meldung über den Rückzug van Manens aus dem choreografischen Leitungsteam des Nederlands Dans Theater begnügt. Kein Wort, kein Kommentar, kein Hinterfragen dieses Abschieds, von dem ich mir nicht vorstellen kann, dass er van Manen, diesem Lieblingschoreografen des deutschen Ballettpublikums, leichtgefallen ist.

Müssen wir uns endlich zu der Einsicht durchringen, dass die Zeit für eine seriöse Tanzberichterstattung, die der Leserschaft bisher die nationalen und internationalen Vergleichsmaßstäbe geliefert hat, abgelaufen ist? Dass sie sich inzwischen ins Internet verlagert hat, wo es jetzt darum geht, ihr zu einem neuen, den andersartigen Bedingungen des elektronischen Mediums angemessenen Selbstverständnis zu verhelfen?

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