Sanfter Menschenwirbel unterm Lichtballon
„Der versiegelte Engel“ tanzt und singt in der Parochialkirche
Geboren wird der Mensch anonym, in der Anonymität der Masse verschwindet er wieder. In dem kurzen Aufleuchten dazwischen wollen Kampf, Leid und wohl Liebe auch erfahren und bewältigt sein. Auf diese Kurzformel lässt sich bringen, was derzeit unter dem Titel „Der versiegelte Engel“ in der Parochialkirche zu erleben ist. Der Rundfunkchor Berlin und sein Dirigent Stefan Parkman haben sich dazu auf ungewohntes Terrain begeben, indem sie Gesang und Tanz in einem sakralen Raum szenisch aufeinandertreffen lassen. Den Grundrahmen spannt eine 1988 entworfene liturgische Tondichtung des vornehmlich als Ballettkomponist bekannten Russen Rodion Shchedrin auf. Sein strikt religiöses Chordrama, obgleich zu Zeiten der Perestroika entstanden, musste sich unter dem Namen einer Erzählung seines Landsmanns Nikolai Leskow tarnen, ohne direkten Bezug auf deren Inhalt zu nehmen. Ging es dort um die List eines Häufleins Altgläubiger, ihre im 17. Jahrhundert vom Staat konfiszierte Ikone zurückzuerlangen, so löst sich die Inszenierung des Musikwerks von jeder konkreten Vorgabe.
Die Parochialkirche, kriegszerstört, bietet mit ihrem zwingenden Rund aus unverputzten Ziegeln einen idealen Raum für die choreografische Fantasie. Lars Scheibner, Solist des Kieler Balletts, platziert die schwarze Tanzfläche unter der Kuppel und lässt sie dreiseitig von Zuschauern auf Podesten umsitzen. Nur die Apsis bleibt den Akteuren als Rückzugsraum. Chor und Solisten beginnen ihre einstündige, stimmungsvoll ausgeleuchtete Wanderung zum Lobpreis Gottes von allen Seiten aus dem Publikum: als Stellvertreter des Auditoriums. Wie ausgestülpt quellen die fünf Tänzer (Brit Rodemund, Michael Rissmann, Stojan Kissiov, Frank Schilcher, Cornelis Rentzsch) in ihrer fast unbedeckten Körperlichkeit nach vorn. Aus dem Gestus des oft verschwebenden, teils gesummten, selten anschwellenden, immer aber tief verinnerlichten Gesangs entwickelt der Choreograf Assoziationen um die Gestalt eines Menschen, dessen Begegnungen mit anderen nur von kurzer Haltbarkeit sind. Als sei er jener versiegelte Engel, verstrickt er sich in einem langen roten Schal, Blutsband, Nabelschnur oder Kreuzessymbol.
Scheibners freie, akrobatische Bewegungssprache bebildert die neunteilige, lediglich von Flöte geleitete Komposition vieldeutig, bleibt indes punktgenaue Form und klare Aussage bisweilen schuldig. Ihr Hauptverdienst liegt im Gespür für unaufdringlich effektvolle Raumgestaltung, die Tänzer, Chor und Gesangssolisten zu einem in sich stimmigen szenischen Gesamtkonzept vereint. Wenn sich am Ende der sanfte Menschenwirbel unterm riesigen Lichtballon beruhigt, wirken Versenkung und Trost nach.
28., 29.5., 21 Uhr, Parochialkirche, Klosterstraße, Mitte, Tel.: 20 29 87 22
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