Ein Ärgernis und eine Überraschung

Zwei neue DVDs: „Dornröschen“ aus Leningrad und „Die steinerne Blume“ aus St. Petersburg

oe
Stuttgart, 10/09/2005

Zwei neue DVDs – und zwei Erfahrungen, wie sie disparater kaum sein könnten. Das neue Kirow-Dornröschen als TV-Produktion des Jahrgangs 1982 – ein Ladenhüter aus finstersten Sowjet-Tagen. Dabei war es doch gerade diese Konstantin-Sergejew-Version des Petipaschen Chef d‘oeuvre gewesen, mit der die Zaren-Erben von der Newa Westeuropa Anfang der sechziger Jahre überrumpelt hatten – mit einer strahlend jungen Equipe. Darunter auch die gerade achtundzwanzigjährige Irina Kolpakowa als meine erste (ex-)St. Petersburger Aurora in London überhaupt (meine erste echt russische Aurora war übrigens, ebenfalls in London, Violetta Elvin bei ihrer Abschiedsvorstellung mit dem Royal Ballet 1956 gewesen).

Ein Ärgernis ist diese „Spastschaja krassawitza“ wegen der lautstarken Interventionen einer Kolpakova-Claque, die jeden ihrer Auftritte mit bis zu fünfmaligen Applausnötigungen quittiert. Spätestens hier hätten die Editoren des DVD-Faceliftings eingreifen müssen! Die Inszenierung: traditionalistisch bieder, ohne irgendwelche dramaturgischen Ambitionen, die Ausstattung (Simon Wirsaladse) muffig, wie wenn die Farben die Schwindsucht hätten, mit schrecklichen Perücken, der Prolog als ob sich‘s um einen Maskenball beim Gestiefelten Kater handelte. Am absurdesten die Überreichung des Rosenstraußes von Carabosse, aus dem Aurora die ellenlange Nadel zieht, um damit wie mit einem Degen in der Luft herumzufuhrwerken. Die Auseinandersetzung mit Carabosse (auch gegen Schluss) auf ein Minimum reduziert.

Die Aufführung gewinnt an Dichte mit der Beteiligung des Corps, wunderschön die Panorama-Szene, rein konzertant das große Violinsolo (ohne einen einzige Bildschnitt auf den konzertierenden Solisten – Dirigent ist Viktor Fedotov). Die inzwischen gut zwanzig Jahre ältere Kolpakowa zelebriert das Rosen-Adagio wie ein Händeschüttel-Zeremoniell bei einem Präsidentenempfang im Kreml-Palast. Die anderen Kirow-Solisten sind zweite Garnitur: Sergei Berezhnoi als Prinz, Ljubov Kunakova als Fliederfee, Vladimir P. Lopukhov als Carabosse – auf dem gedruckten Besetzungszettel werden nicht einmal die Blauen Vögel erwähnt. Das Sahnehäubchen der Produktion sind die Auftritte des Corps – solideste St. Petersburger Mariinsky-Tradition. Ansonsten brauchbar nur als Referenz für die Petipa-Piecen. (Warner Music Group Company, 0630 19396-2, 166 Minuten).

Wesentlich erfreulicher die von der gleichen Firma herausgebrauchte Produktion der „Steinernen Blume“. Die floppte bekanntlich bei ihrer Moskauer Uraufführung 1954, ein Jahr nach Prokofjews Tod in einer wenig Begeisterung hervorrufenden Inszenierung von Lawrowsky. Drei Jahre später, neuproduziert vom gerade dreißigjährigen Juri Grigorowitsch beim Leningrader Kirow-Ballett, markierte sie dessen entscheidenden Durchbruch als Choreograf, der schon bald die Übernahme durch das Moskauer Bolschoi-Ballett folgte (und seine etwas spätere Berufung zum Leiter der Moskauer Kompanie).

Dauerhaft hat sich die „Steinerne Blume“ nicht im Repertoire zu halten vermocht – schon gar nicht bei ihren diversen Aufführungen im Westen. Kein Vergleich jedenfalls mit der noch immer anhaltenden Popularität von Prokofjews „Romeo und Julia“ und „Aschenbrödel“. Schade, denn die Musik (hier dirigiert von Alexandre Viliumanis) ist durchaus tanzelektrisierend und, wie alles von Prokofjew, glänzend instrumentiert. Das Libretto basiert auf Märchenerzählungen aus dem Ural – und derart folkloristisch inspirierte Ballette haben heute ja kaum noch eine Chance (ich denke da auch an das einst so beliebte „Harnaschie“ von Szymanowski und besonders an Lhotkas „Teufel im Dorf“). Damit entfällt leider für das heutige Repertoire eine ganze, noch bis in die fünfziger Jahre populäre Gattung.

Die Story ist simpel: Danila ist ein junger Steinbildhauer, besessen von der Idee, das perfekte Kunstwerk zu schaffen – eben die „Steinerne Blume“ aus Malachit. Er liebt und wird wiedergeliebt, von der liebreizenden Katerina, aber sein künstlerischer Ehrgeiz ist stärker, und so folgt er der Herrin des Kupferbergs, erliegt auch fast ihren erotischen Versuchungen, besinnt sich aber doch schließlich noch und kehrt zu Katerina zurück, die er gleich am Anfang schon vor den Nachstellungen des lüsternen Sewerjan beschützt hatte.

Das hat Grigorowitsch (mit Hilfe seines Ausstatters Simon Wirsaladse) als eine große Folkloreshow choreografiert, mit zahlreichen Charakterrollen, ausufernden Divertissements à la Petipa und einer nicht enden wollenden Kirmes, in der kein Klischee ausgelassen ist, die aber durch ihre überbordende Vitalität für sich einnimmt. Ein Märchen eben aus jenen Tagen, als die Ballettwelt noch heil war (oder doch so schien) – naiv, bunt, herzensgut und abgrundtief böse. Nichts für das heutige, ach so „sophisticated“ Publikum (oder doch zumindest für die heutigen Kritiker)! Mir hat es gleichwohl großen Spaß gemacht, wenn ich mir auch ein paar beherzte Striche gewünscht hätte.

Die ganze Produktion kommuniziert eine emphatische Natürlichkeit. Das liegt auch daran, dass in dieser ursprünglichen TV-Produktion aus dem Jahr 1991 nicht die allererste Garde der Mariinsky-Elite tanzt, sondern noch vor jeglicher artifiziellen Überzüchtung gefeite Youngsters wie der ansteckend burschikose Aleksandr Gulyaev als Danila, die wunderbar beseelte Anna Polikarpova als Katerina (Hamburg, please listen!), die gleisnerisch verführerische Tatiana Terekhova als Herrin des Kupferbergs, der kraftstrotzende Gendy Babanin als Sewerjan, die irrlichternde Irina Christyakova als Feuerfee – und das tänzerische Vitalität aus allen Poren versprühende Mariinsky-Corps. Jedenfalls eine Visitenkarten-Produktion des dreißigjährigen Grigorowitsch, mit der er sich eindeutig als begabtester unter den damals jüngeren sowjetischen Choreografen qualifiziert (Warner Music Group Company, 9031 76401-2, ca. 110 min.)

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