Ein Köchel für Strawinsky

Strawinskys Oeuvre, komplett erfasst von Helmut Kirchmeyer

oe
Stuttgart, 05/02/2005

Nicht jeder Musikfreund mag wissen, dass es sich bei KV 488 um Mozarts Klavierkonzert A-Dur handelt, aber dass die Bezeichnung auf ein Mozartwerk verweist, dürfte sich auch bei denen herumgesprochen haben, die gemeinhin mit dem Wiener Klassiker nicht viel am Hut haben. Und auch, dass sich das KV auf das „Chronologisch-thematische Verzeichnis sämtlicher Tonwerke Wolfgang Amade Mozarts“ des Alois Friedrich Ferdinand Ludwig Ritter von Köchel bezieht, gehört zum allgemeinen Bildungsgut. Und genau so ist es beim BWV, dem Verzeichnis der Werke Bachs. Nicht ganz so selbstverständlich in den allgemeinen Sprachgebrauch eingegangen sind die Auszeichnungen Hob (alias Anthony van Hoboken für die Werke Haydns) und D (Otto Erich Deutsch für die Werke Schuberts). Die meisten Komponisten allerdings haben ihre Werke selbst nummeriert, indem sie der Bezeichnung beispielsweise als Sonate oder Sinfonie ein op. (für Opus) nachgestellt haben.

Im Falle Igor Strawinskys gab es bisher nur unvollständige Versuche, sein kompositorisches Werk zu katalogisieren. Das hat sich jetzt geändert. Helmut Kirchmeyer, schon seit langem als internationale Strawinsky-Autorität bekannt (von dem bereits 1974 ein immer wieder gern zur Rate gezogenes Büchlein „Strawinskys russische Ballette“ bei Reclam erschienen ist), hat jetzt ein imposantes „Kommentiertes Verzeichnis der Werke & Werkausgaben Igor Strawinskys bis 1971“ vorgelegt, das im Verlag der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, in Kommission bei S. Hirzel, Stuttgart/Leipzig erschienen ist (602 Seiten, ISBN 3-7776-1156-5, 84 Euro). Es ist ein wahrlich erstaunliches Kompendium, ein Lebenswerk sozusagen, das mir schon in den wenigen Wochen, da es mir zur Verfügung steht, zu einem unentbehrlichen Arbeitsinstrument geworden ist. Der Klappentext weist es als eine „Strawinsky-Ergographie“ aus. Das ist eine mir bisher unbekannte Klassifizierung, zu der es erläuternd heißt, dass hier „die klassische Form des Werkverzeichnisses mit heutigen fachbibliografischen Informationsansprüchen“ verbunden ist.

Wie kompliziert die jahrelange Recherche für die hier versammelten Fakten gewesen ist, geht einem schon in den einzelnen Abschnitten des Vorworts auf, in denen die Nummerierung-Methodik, das Verfahren, das Ziel und die Fixierung des Geburtsdatums (wegen der unterschiedlichen Kalendarien in Russland und dem Rest der Welt) erläutert werden. Die einzelnen, von 1 (Sonate für Klavier) bis 110 (Präludien und Fugen von J. S. Bach) nummerierten Werke, denen noch die Nachträge N 1 (Tarantella) bis N 37 (For Lucia Chase and the Ballet Theater) folgen, werden dann systematisch vorgestellt und kommentiert: Nummerierung, Titel, Dauer, Widmung, Entstehung, Uraufführung, Aufbau, Besetzung, Transliteration, Tonträger, CD-Edition, Notenbeispiele, Formate, Schriftauszeichnungen und Ausgaben-Übersicht.

Was hier an Informationen dargeboten wird, ist überwältigend – gerade auch für den tanzinteressierten Benutzer. So umfasst allein die Nummer 12, „Petruschka“, dreizehn eng bedruckte Seiten – dazu gehören unter anderem auch die taktweise aufgeschlüsselte Inhaltsangabe, die Uraufführungsbesetzung und die Beschreibung der Choreografie. Bei den konzertanten Werken sind auch die Uraufführungen als Ballett verzeichnet (Nr. 75, Concerto en Ré – von Robbins 1951 als „The Cage“ choreografiert). Was Kirchmeyer an Hintergrundinformationen auch über die Ballets Russes von Diaghilew und über Balanchines Zusammenarbeit mit Strawinsky bietet, findet sich so komprimiert in keiner mir bekannten Dokumentation. Wahrlich ein Jahrhundertwerk! Fragt sich nur, wie wir die Nummerierung künftig nennen sollen – nachdem ja da K bereits für Köchel reserviert ist. Vielleicht Ki.V – für Kirchmeyer-Verzeichnis? Oder – nach bewährtem Bach-Muster – SWV für Strawinsky Werkverzeichnis? Vielleicht könnten wir uns ja bis zum 125. Geburtstag Strawinskys im Jahr 2007 darauf einigen! Das Werk ist über die Webseite des Hirzel-Verlags bestellbar.

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