Eine Premiere der Klasse B

Wiederaufnahmen von Mauro Bigonzetti, Wayne McGregor und Uwe Scholz

oe
Stuttgart, 28/10/2005

Da haben wir nun nicht nur einen, sondern sogar zwei Hauschoreografen, doch beide sind so beschäftigt, dass sie der ersten Premiere der neuen Spielzeit keine Kreation beisteuern konnten. Christian Spuck steht in Heidelberg kurz vor seinem Debüt als Opernregisseur und hat wohl schon das Flugticket für sein neues Stück beim Hubbard Street Dance Chicago in der Tasche. Und Marco Goecke ist noch so erschöpft von seiner Premiere beim holländischen Scapino Ballett, dass er erst einmal seine Gastchoreografie beim Pacific Northwest Ballet in Seattle abgesagt und für Hannover sein „Sweet, Sweet, Sweet“ neu aufbereitet hat.

Also muss sich Stuttgart erst einmal mit einer Premiere der Klasse B begnügen: drei Wiederaufnahmen – immerhin von Balletten, die für die Stuttgarter Kompanie geschaffen worden sind. Sozusagen in Memoriam Uwe Scholz gab es dessen 1991 – also noch während der Haydée-Ära – entstandene „Siebte Sinfonie“ zu Beethovens sinfonischer „Apotheose des Tanzes“, zweifellos einen der Klassiker des Scholzschen Oeuvres. Mauro Bigonzettis „Kazimir‘s Colours“, Jahrgang 1996, erinnerte sodann an die erste Premiere der Ära Anderson (und schlug gleichzeitig den Bogen zurück zu Crankos „Katalyse“ zum gleichem Konzert für Klavier, Trompete und Orchester von Schostakowitsch, dem ersten einhelligen Erfolg Crankos in Stuttgart 1961 – noch vor „Romeo und Julia“). Und Wayne McGregors „Eden|Eden“ markierte schließlich die Ankunft des Stuttgarter Balletts im Jahr 2005, denn es hatte ja gerade erst im April dieses Jahres Premiere.

Ein Programm also für die geschichtsbewussten Freunde des Stuttgarter Balletts also (wobei man freilich seine Zweifel hat, dass es so konzipiert war – wer erinnert sich heute noch an Crankos „Katalyse“, uraufgeführt als Anderson in seinem kanadischen British Columbia noch ein zwölfjähriger Steppke war). Immerhin vom Staatsorchester unter der Leitung von James Tuggle live musiziert, mit Glen Prince und Werner Heckmann als Solisten im Schostakowitsch-Konzert – was ja heute leider keine Selbstverständlichkeit mehr ist. Sind wir damit wirklich im – sogar gedoppelten – Paradies des Stuttgarter Balletts angekommen? Was die tänzerische Qualität angeht, schien der Beifall des Publikums ein einziges jubilierendes Ja! Und tatsächlich stob die „Siebte Sinfonie“ wie ein Wirbelsturm über die Bühne – mit dem Auge des tänzerischen Hurricans im Assai meno presto, wenn die Tänzer bewegungslos in ein virtuelles Loch starren, angeführt von Maria Eichwald und Jason Reilly quasi als Dioskurenpaar des Äolus, nebst ihren zweimal vier Adlati (Katja Wünsche und Mikhail Kaniskin, Oihane Herrero und Filip Barankiewicz, Magdalena Dziegielewska und dem von Sieg zu Sieg eilenden Marijn Rademaker, Katarzyna Kozielska und Stefan Stewart).

Ein würdiges, lebenssprühendes Memorial für den so tragisch früh verstorbenen ersten hausgemachten Choreografen des Stuttgarter Balletts! Mögen die allzu bunten Farben des Gospodin Kazimir, alias Malewitsch, in neun Jahren auch ein bisschen verblasst sein, die tänzerische Hochspannung, mit der Bigonzetti (Andersons erste Stuttgarter Choreografen-Entdeckung) für die Kompanie aufgeladen hat, versprüht knisternd ihre Energie, auch wenn ihre Elektrizitätspole nicht länger Margaret Illmann und Robert Tewsley, sondern Bridget Breiner und Alexander Zaitsev heißen. Und wenn McGregors Doppelparadies auch bei der wiederholten Begegnung weiterhin eher Rätsel über die „dysfunctional physicality“ seiner Bewegungssprache aufgibt als dass es seine behaupteten neurophysiologischen Ambitionen plausibel erscheinen ließe, so kann man sich der geradezu lähmenden Faszination seiner verstörenden Visionen einer eiskalten Schönheit umso weniger entziehen, da sie von den neun Stuttgarter Tänzern mit Alicia Amatriain und Friedemann Vogel an der Spitze so lupenrein verschroben wie aus dem Lehrbuch einer futuristischen Danse d'école zelebriert werden.

 

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