Kein Ballett - und niemand hat's bemerkt

Hector Berlioz' „Les Troyens“ als Zwei-Städte-Projekt der Deutschen Oper am Rhein

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Duisburg und Düsseldorf, 09/11/2005

Die größte aller Grand Opéras – die monumentalste – die aufwendigste – die längste: Hector Berlioz' „Les Troyens“, fünf Akte, zwei Teile – „Der Fall Trojas“ und „Die Trojaner in Karthago“. Frankreichs Antwort auf den deutschen „Ring des Nibelungen“ – eine geschichtsphilosophische Theater-Lektion über Politik, Macht, Liebe, Hybris und Untergang. Die Deutsche Oper am Rhein hat das 300-Personen-Spektakel gestemmt – in ihren beiden Vertragsstädten. Troja beginnt um 15 Uhr in Duisburg, ein Shuttle-Bus transportierte die interessierten Besucher nach Düsseldorf, wo Karthago um 22.45 Uhr endet. Alle sind danach total erschöpft – aber auch beglückt, denn die Aufführung des selten anzutreffenden Werks ist ein totaler Sieg: für Berlioz, für die Sänger und Chormassen nebst den Statistenscharen, für die beiden Orchester von Duisburg und Düsseldorf unter ihrem Chef John Fiore (Furore sollte er heißen!) – für die Deutsche Oper am Rhein – und generell für die Oper, diese unmögliche Kunstgattung! Sie ist es nicht zuletzt dank ihres Regisseurs: Christof Loy (nebst seinem Bühnenbildner Herbert Murauer und seiner Kostümbildnerin Michaela Barth).

Eigentlich ist ein großes Ballettaufgebot gefragt: Ringkämpfer, orientalische Tänzerinnen, Sklaven, nubische Sklaven. Doch Loy hat darauf verzichtet – leider (ich könnte mir gut Kresnik als Choreografen vorstellen). Stattdessen leistet er sich lediglich einen choreografischen Entwicklungshelfer: Istvan Herczog. Das Merkwürdige ist freilich, dass (fast) niemand es bemerkt hat. Denn die dafür vorgesehenen Musiknummern werden – mit minimalen Kürzungen – gespielt. Und Loy hat sie so geschickt seiner ganz aus dem dramatischen Bewegungsduktus konzipierten Inszenierung integriert, dass einem gar nicht bewusst wird, dass hier eigentlich getanzt werden sollte: als Ritual, als Zeremonie, als Staatsakt, als Wettkampf, als neu eingeführte Nebenhandlung. Es ist immer etwas los – und zwar etwas aus dem dramatischen Aktionsfluss Entsprungenes. Die ganze Produktion entrollt sich wie ein gewaltiger Fluss, mit durchaus auch ruhigen Episoden, wo der Weltatem inne zu halten scheint, um dann wieder in tosender, niederschmetternden Wucht zu eskalieren.

Loy hat das alles strukturiert und instrumentiert wie ein Komponist seine Partitur instrumentiert. So wird jeder der Beteiligten zu einem Solisten und entsprechend profiliert – in seiner Gestik und Mimik, in seinem vokalen Timbre, auch in seinem Kostüm, und bleibt doch immer ein Teil des Ganzen. Selbst die stumme Rolle der Andromache wächst in der majestätischen Darstellung Monique Janottas zu imponierender Größe (und Schönheit). Die beiden Hauptfrauen, Evelyn Herlitzius als Kassandra und Jeanne Piland als Dido kommunizieren den humanen Adel einer Mary Wigman, beziehungsweise einer Martha Graham – ohne sich im mindesten als frustrierte Ausdruckstänzerinnen zu gerieren.

Christof Loys Inszenierung ist als bewusst heutige (auch politische) Interpretation des Textes und der Musik von Berlioz ein Gesamtkunstwerk, das vom Geiste der Choreografie durchdrungen ist, ohne sich doch – außer in ein, zwei episodenhaften Einzelszenen – je zum Tanz zu verdichten. Sie ist Teil eines umfassenden Projekts „Mythologie kompakt“, das außerdem Monteverdis „Heimkehr des Odysseus“, Scarlattis „Telemaco“ und – ebenfalls von Loy geradezu champagnerspritzig neu inszeniert – Offenbachs Opéra-bouffe „Die schöne Helena“ offeriert. So wünsche ich mir einen Opernspielplan konzipiert (Zürich hat kürzlich mit seinem Zyklus römischer Kaiseropern (Monteverdis „Krönung der Poppea“, Händels „Giulio Cesare“ und Mozarts „Titus“) Ähnliches gewagt. Eine Nebenbemerkung: dies ist die politischste Opernproduktion seit langem. Ohne direkt zu zitieren, beschwört sie unweigerlich Assoziationen zu Nordkorea, China, afrikanischen und südamerikanischen Diktaturen nebst der Ex-DDR und den Kreml-Paraden – und spart dabei die westliche Welt inklusive Maggie Thatcher und den Luxus-Weekend-Domizilen der Politiker à la Checkers etc. nicht aus.

Rein per Zufall hat diese lange vorbereite Produktion genau zu dem Zeitpunkt Premiere, da der amerikanische Bestseller „Kollaps“ von Jared Diamond über den Untergang von Kulturen zu den Bestsellern dieses Bücher-Herbstes zählt. Und noch eine Schlussanmerkung: Angesichts dieser eminent politischen Inszenierung wünsche ich mir nichts so sehr wie einen Entschluss Christof Loys, sich einmal Mussorgskys „Chowanchtschina“ anzunehmen, dieser russischsten aller russischen Opern. Er wird sich auch für den Tanz der persischen Sklavinnen sicherlich etwas Besonderes einfallen lassen – nicht zu reden von dem kollektiven Selbstmord der Altgläubigen am Schluss (nach diesem geradezu verstörenden Schluss in „Der Fall Trojas“, wenn die Trojanerinnen sich in den Tod stürzen, um dem Gemetzel durch die Griechen zu entgehen).

 

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