Problemkind: Ballettoper - mal mit, lieber aber ohne

Händel, Rameau, Mozart, Tschaikowsky und Nielsen in München, Strasbourg, Stuttgart, Baden-Baden und Bregenz

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Stuttgart, 22/07/2005

Es hat zum Schluss der Saison eine Reihe von Opernproduktionen gegeben, bei denen die Komponisten eine werkidentische Beteiligung des Balletts vorgesehen haben. Der allerdings scheinen die meisten unserer Opern- und Ballettmacher, ihren zeitgeistigen Crossover-Deklarationen zum Trotz, gründlich zu misstrauen. Und so sind denn die diversen Bemühungen sehr unterschiedlich ausgefallen.

Am leichtesten hat es sich Stuttgart gemacht. Dort gab es eine Neuinszenierung von „Idomeneo“ – für den Mozart seine anspruchsvollste Ballettmusik überhaupt geschrieben hat (kein Vergleich mit „Les petits riens“). Zwar besitzt Stuttgart einen Opern- und einen Ballettintendanten, aber die tun so, als hätten sie nie voreinander gehört. Und deshalb haben sie beim neuen „Idomeno“ gleich ganz auf eine Ballettmitwirkung verzichtet – und damit auf über zwölf Minuten herrlichste Mozart-Musik. Einfach ein Strich – und das war‘s dann auch schon! Gern hätte ich Strasbourgs neue Rameau-„Borreades“ gesehen, zumal ich ausgesprochen Positives darüber gehört habe. Das aber war leider aus terminlichen Gründen nicht möglich. Schade! Über einen anderen Rameau – „Platée“ – habe ich ja kürzlich aus Darmstadt berichtet (kj vom 25.6.), und der ist mir, alles in allem, in guter Erinnerung geblieben.

In München gab es, anlässlich der sommerlichen Festspiele, im Prinzregententheater Händels „Alcina“ – bekanntlich (?) eine große Ballettoper, in deren Londoner Uraufführung immerhin Marie Sallé als Ballerina mitgewirkt hatte. Dafür aber war sich Lucia Lacarra offenbar zu schade. Immerhin war dies eine wunderbar stimmige Aufführung, inszeniert von Christoph Loy, dem offensichtlich jeder musikalische Schnitt ein Stich ins Herz ist. Und so ließ er die drei großen Balletteinlagen alles in allem unangetastet – so, dass man richtig in Händels grandioser Musik baden konnte. Als choreografische Mitarbeiterin hatte er Beate Vollack verpflichtet (die schon vorher in der Saison bei Cavallis „Calisto“ ein paar clevere Tanzsequenzen beigesteuert hatte).

Für die Tänze in „Alcina“ wurden nicht etwa Schülerinnen der Akademie oder Elevinnen aus dem Corps engagiert (oder doch? Auf dem Besetzungszettel fungieren lediglich sieben Damen als „Erscheinungen“), sondern offenbar ein paar Externe, die die drei stilistisch beabsichtigt sehr zeitunterschiedlichen Einlagen tanzten, die erste mit historischen Applikationen aus dem Barock, die zweite mehr modern gestylt als Schreckgespenster, und die dritte – da geht es um Kriegshandlungen – als moderne Kampfgruppen in Tarnanzügen. Etwas forciert – na, ja, doch ohne die Musik zu beschädigen, die in ihrer barocken Gravität sich voll entfaltete.

Und noch einmal Ballett: Tschaikowskys späte und wenig bekannte Oper „Die Zauberin“ (die ich ein einziges Mal vor 56 Jahren in Leipzig sah, „Tanzgestaltung: Herbert Freund“ – unter den Tänzern ein gewisser Tom Schilling, damals gerade 21). Da handelte sich‘s um eine Koproduktion von Lissabon und St. Petersburg, als Gastspiel des Mariinsky-Theaters in Baden-Baden – Dirigent: Valery Gergiev, Regie David Pountney, Choreografie: Renato Zanella. Doch der und das ausführende Ballettensemble schienen auf dem Wege Lissabon – St. Petersburg – Baden-Baden irgendwo verlorengegangen zu sein. Keiner ihrer Namen oder auch nur eine Performing Group erschienen auf dem Besetzungszettel. Ob Zanella seine ursprüngliche Choreografie wiedererkannt hat, ob die mitwirkenden Tänzer wirklich Mariinskyaner waren, weiß ich nicht, konnte ich auch nicht in Erfahrung bringen.

Getanzt wurde jedenfalls: eine große Balletteinlage im ersten Akt, der in einem zweifelhaften Etablissement spielt – ein ausgesprochener Anmache-Tanz, eine Art Aphrodisiakum, dazu bestimmt, die anwesenden männlichen Kavaliere in die richtige Stimmung zu bringen. Harmlos, harmlos das Ganze – ein bisschen erotische S- und M-Spiele, Hoppe, hoppe Reiter – und eine Choreografie, der ein Schuss hochprozentiger Wodka gutgetan hätte. Ein Zanella, dem offenbar noch in den Gliedern steckte, was er den Wienern beim letzten Opernball zuzumuten sich getraut hatte. Vergessenswert!

Und dann die Totalüberraschung in Bregenz: im Festspielhaus Carl Nielsens auf dem Kontinent weitgehend unbekannt gebliebene Komische Oper „Maskarade“. Ein tolles Stück in der Linie Berlioz, Verdi, Busoni, Wolf-Ferrari. Eine echte Entdeckung – und eine sensationelle Aufführung: Dirigent Ulf Schirmer, Regie David Pountney, Choreografie Renato Zanella. Unter den Mitwirkenden das „Tanzensemble Bregenzer Festspiele“. Eine veritable Sensation – und: der beste Zanella, den ich seit seinem Debüt vor zwanzig Jahren beim Stuttgart Ballett gesehen habe. Ein Opernballettabend, der ein gesondertes koeglerjournal verdient!

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