Showtime im Kapitalismus

Jugendliche tanzen im Stück „BRIEF“ von Ives Thuwis

Stuttgart, 12/11/2005

Seit der Film „Rhythm is it!“ im letzten Jahr gezeigt hat, wie sich Jugendliche unterschiedlichster Herkunft und Begabung im Tanz verständigen, wie sie sich persönlich und sozial zusammenraufen, seitdem schießen überall Tanzprojekte mit Kindern und Teenagern aus dem Boden - sogar John Neumeier interessiert sich plötzlich für den nicht ausgebildeten Tänzer-Nachwuchs. Royston Maldoom hat einen Trend ausgelöst: Sozialisation durch Tanz.

Ein wesentlich kleineres, inhaltlich aber anspruchsvolleres Projekt ist „BRIEF“, eine Koproduktion der drei Jugendtheater Kopergietery Gent, Dschungel Wien, Junges Ensemble Stuttgart und des Theaterhauses Gessnerallee Zürich. Die Uraufführung fand im September in Belgien statt, am Donnerstag war Deutschlandpremiere in Stuttgart. Der belgische Choreograf Ives Thuwis bringt nicht die Massen zum Tanzen, sondern nur 19 Jugendliche aus den vier beteiligten Ländern - aber was er mit ihnen erarbeitet hat, sieht sehr viel spannender aus als Maldooms „Sacre du Printemps“ in Berlin. Statt den Berliner Philharmonikern gibt es hier eine Collage aus heftigen Rock- und Popsongs (die manchmal auch ironisch eingesetzt werden), aus Geräuschen, Filmeinspielungen und zum Schluss auch klassischer Musik.

Am Anfang schmettern ein Mädchen und ein Junge zwei Schlachtrufe in die Mikrofone: „Scheißkapitalismus!“ und dann „Showtime!“. Und zwischen diesen beiden Polen geht dann der Punk ab - mit beißender Politkritik (vor allem an George W. Bush) und wehenden Friedensfahnen, mit flapsigen Gags und lakonischen Gesten, und mit dem unersättlichen Enthusiasmus der Jugend. Denn immer wieder fegt ein Trupp in stürmischer Bewegungslust über die Bühne, sie schnippen, springen, stampfen, ganz ohne den „schaut wie toll ich bin“-Habitus von tanzenden Amateuren, sondern wild und ausgelassen. Sie tanzen für sich, nicht für andere. Witzig verulken die Siebzehn-, Achtzehnjährigen ihre eigenen Klischees, bitter reflektieren sie über die Welt, in die sie geboren wurden.

Ein Motiv zieht sich durch den gesamten 75-minütigen Abend: immer wieder läuft jemand ans Mikro, runzelt die Stirn, holt tief Luft - und sagt dann doch nichts. Fehlen ihnen die Worte? Oder lohnt es sich vielleicht gar nicht, etwas zu sagen? Ist es die Wut über ihre Ohnmacht, die die Tänzer an einem Stapel Pappkartons auslassen, den sie in der Luft zerfetzen? Danach werfen sie sich mit Inbrunst auf den Boden, alle völlig synchron und immer verzweifelter, immer härter. So lange, bis man es sogar als Zuschauer fast nicht mehr ertragen kann, bis nur noch das laute Keuchen durch die Stille hallt. Dann stapelt ein Mädchen die Leichen, ein Junge bröselt Gesten in sich hinein wie ein Autist, ein einsames Klavier spielt.

Das Stück ist mehr als Tanztheater, es ist tief beeindruckendes Körpertheater. Bedenklich, sehr bedenklich, stimmt an dieser Aufführung nur eines: dass „BRIEF“ so viel nachdenklicher und intensiver erscheint als manche pseudo-innovative Tanzunternehmung der erwachsenen freien Szene - als brächten die Jugendlichen einen ganz anderen Nachdruck, eine viel größere Dringlichkeit mit. Merkwürdig, dass noch kein Tanztheater daran gedacht hat, eine Junior Company im Stil von NDT 2 oder den Zürich Juniors aufzumachen. Wo bleibt Wuppertal 2?
 

Links: www.dekopergietery.be / www.jes-stuttgart.de / www.dschungelwien.atwww.gessnerallee.ch

 

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