Überschätzung der technischen Perfektion auf Kosten der individuellen Künstlerschaft?

Barbara Newman: „Grace under Pressure - Passing Dance Through Time“

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Stuttgart, 10/01/2005

Ein ungewöhnlich anregendes Buch, das ist Barbara Newmans „Grace under Pressure“ (Dance Books, London 2004, 480 Seiten, 14.95 £, ISBN 1-85273-099-4). Der Titel heißt so viel wie „Grazie unter Druck“ (aber das englische Grace bedeutet auch Gnade). Die Autorin ist eine in London lebende Amerikanerin mit professioneller Ballett-Erfahrung, die für englische Zeitschriften schreibt – regelmäßig auch über Musicals für die Dancing Times. Ihr ziemlich kompaktes, dickes Buch ist eine Art Regierungserklärung über die Entwicklung des Balletts während der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und den heutigen Zustand.

Es beruht auf einer Reihe von Interviews mit prominenten internationalen Lehrern, Coaches, Direktoren und Choreografen – zusammengefasst in den Rubriken „In the Classroom“, „On the Job“, „In Creation and Revival“, „In the Details“ und „In the Studio“. Doch diese Interviews sind nicht als solche abgedruckt, sondern erscheinen zusammengefasst als jeweils persönliche Statements der befragten Persönlichkeiten. Vorausgestellt ist eine Bilanz über die Nachkriegsentwicklung des Balletts. Ein relativ kurzes Postscript fasst dann noch einmal das Resultat der gewonnenen Erkenntnisse zusammen. Die allerdings sind insgesamt ziemlich negativ: „The over-emphasis on technique, the fast pace and the pressure of modern life, all contribute to the erosion of artistry and emotional meaning“.

Über die verschiedenen nationalen Schulen kommen Suki Schorer (School of American Ballet), Kathryn Wade (English National Ballet School), Marc du Bouays (Paris Opéra Ballet School) und Anne Marie Vessel (Royal Danish Ballet School) zu Worte. Hier vermisst man einen Vertreter der Schulen in St. Petersburg oder Moskau. Von den künstlerischen Direktoren äußern sich Maina Gielgud (die ich mir gut auch als Chefin einer der großen deutschen Kompanien vorstellen könnte), Helgi Tomasson, David Bintley und Francia Russell. Dann sind als Choreografen und Einstudierer Mark Morris, Jean-Pierre Fröhlich, Shelley Washington und Yuri Fateyev (sehr wichtig als Vermittler des Balanchine-Repertoires beim Mariinsky-Ballett) an der Reihe. Es fehlt ein Mann wie John Neumeier mit seinen Erfahrungen im Umgang mit den sogenannten Originalchoreografien.

Ungemein aufschlussreich sind die Anmerkungen der Coaches Sorella Englund, Violette Verdy (auch später nochmals „In the Studio“ –überraschend kritisch über NYCB) und Irina Kolpakova (ebenfalls mit sehr informativen Beobachtungen über Leningrad/St. Petersburg und Amerika/England). Und zum Schluss äußern sich als Ballettlehrer über ihre Erfahrungen mit dem heutigen Nachwuchs Margaret Mercier, Robert Denvers, Verdy und Richard Thomas (sehr interessant Denvers über Béjart versus Balanchine und geradezu herausfordernd provokativ Thomas über Peter Martins und das NYCB, das Royal Ballet und die Waganowa-Akademie). In gewisser Weise ist „Grace under Pressure“ das Anschlussbuch zu Maja Langsdorffs „Ballett – und dann?“ Denn hier wie dort geht es um ehemalige Tänzer in ihrem zweiten Lebensabschnitt.

Doch hieß das Schlüsselwort bei Langsdorff „Disziplin“, so heißt es bei Newman „Lernen“. Kein anderes Wort kommt bei ihr so oft vor – und dabei geht es sowohl um die Fron des Lernens während der Ausbildung und der Bühnenkarriere als auch das unablässige Lernen der Lehrer von ihren Schülern und den aktiven Profis. Das ist alles ganz außerordentlich gedankenanregend und ausgesprochen präzise formuliert. Ich habe nur einen Fehler entdeckt: die im Kolpakova-Interview erwähnte hochdramatische Tänzerin, die mit Ulanowa in der gleichen Klasse studiert hat, hieß Tatjana Michailowna Wetscheslowa (und nicht Vicheslova). Mit Nachdruck für eine Übersetzung ins Deutsche empfohlen!

 

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