Von Meringue bis Clowning und Krumping

Zwei neue Tanzfilme: „Mad Hot Ballroom“ und „Rize“

oe
Stuttgart, 05/11/2005

Tanze – und ich sage Dir, wer Du bist! Und ich sage dir auch, was in dir steckt – wer Du sein könntest (Neudeutsch: dein „Potenzial“)! Dies die Botschaft zweier neuer Tanzfilme, die derzeit für einiges Aufsehen sorgen – weltenfern von den Glitzer- und Glamour-Produktionen Hollywoods à la Busby Berkeley, den Film-Musicals mit Fred Astaire und Ginger Rogers oder Gene Kelly – beziehungsweise von den jüngsten, Tanz-dominierten Spectaculars wie „Chicago“ oder „Moulin Rouge“, nicht zu reden von den verfilmten Balletten Matthew Bournes.

Das tänzerische Mode-Stichwort heißt Sozialisation – als Slogan erscheint es im Untertitel des Films „Rhythm Is It!“: „You can change your life in a dance class“. Derjenige, dem als erster der Ausbruch aus seinen tristen familiären Verhältnissen in der englischen Provinz gelang, war „Billy Elliot“, der durch seinen zufälligen Besuch einer Ballettklasse entdeckte, dass ein Tänzer in ihm steckte. Und der mit einer staunenswerten Konsequenz – gegen den Willen seines Vaters und seines nicht weniger machohaften Bruders – seine Ausbildung betrieb, die ihm schließlich ein Engagement in einer Ballettkompanie einbrachte.

„Rhythm Is It!“ war dann die Dokumentation eines Projektes über das Zusammenwirken von 250 Schülern diverser Berliner Schulen und der Berliner Philharmoniker unter ihrem Chefdirigenten Simon Rattle an einer Produktion von Strawinkys „Sacre du printemps“, choreografiert von Royston Maldoom. Der hat sich – überaus erfolgreich – in verschiedenen Teilen der Welt auf die Arbeit mit Schulkindern konzentriert und dabei die erstaunlichsten Erfahrungen gemacht – seit geraumer Zeit konzentriert auch in verschiedenen deutschen Städten. Wie nämlich durch die Lust am Tanzen kreative Energien in den Mädchen und Jungen geweckt und darüber hinaus gemeinschaftsfördernde Eigenschaften kultiviert werden, also ausgesprochen gesellschaftspolitische Zielsetzungen umgesetzt werden. Pisa und der Tanz sozusagen!

In dem Film „Mad Hot Ballroom“ geht es um drei Klassen aus verschiedenen New Yorker Stadtteilen, die jährlich in einem Wettbewerb in den Standardtänzen Meringue, Rumba, Samba, Tango und Swing miteinander konkurrieren. Um die Vorbereitungen, inklusive zahlreicher Gespräche und Kommentare mit den Schülern und Lehrern über ihre Lebensumstände und ihre Erwartungen. Der pädagogisch-didaktische Zeigefinger ist unübersehbar, und es beschleicht einen ein ungutes Gefühl, wie hier Kinder in der Pubertät förmlich in ein Erwachsenendasein hinein gedrillt werden, wie sie hier in ein striktes Formenkorsett gezwängt werden – und vor allem: wie ihnen hier ein Wettbewerbs- und Rivalitätsbewusstsein anerzogen wird, das wenig Freiraum für die Entwicklung schöpferischer Eigenaktivitäten lässt. Sie kommen aus den verschiedensten sozialen Milieus, aber wenn sie dann zum finalen Wettbewerb antreten, sehen sie alle gleich aus, die Mädchen in ihren Ballroben, die Jungs in ihren schwarzen Anzügen, weißen Hemden und Fliegen nebst schwarzen Lackschuhen: wie Tanzsoldatinnen und -soldaten, frisch gestärkt aus der chemischen Reinigung, mit dem ihnen eingeimpften Cheesecake-Lächeln. Das ist hübsch anzusehen und in ihren Gesichtern spiegeln sich die unterschiedlichsten Emotionen – gleichwohl: die kommandierte Zwanghaftigkeit dieser Tänze hat etwas Beklemmendes.

Ganz anders – wenn auch nicht weniger beklemmend – ist der Eindruck des Films „Rize“ aus den Slums von Los Angeles, wo sich die Unterprivilegierten ihren Frust, ihre Wut, aber auch ihre Hoffnung aus ihren Leibern tanzen. Erwachsen aus afroamerikanischen Stammesritualen, in einem Stil, den sie wegen ihrer zirzensischen Verkleidungs- und Bemalungspraktiken Clowning oder Krumping nennen, mutet er mit seinen hoch artistischen und akrobatischen Bewegungselementen wie eine Fortentwicklung der Breakdance- und Hip-Hop-Bewegung an, mit der sie allerdings wegen ihrer kommerziellen Korrumpierung partout nichts zu tun haben wollen. Auch wenn sie rivalisierend miteinander konkurrieren, kommt bei ihnen alles aus der Improvisation, die sie bis in die Ekstase treiben – ungeheuer lautstark und aggressiv, dass einem – mir – angst und bange wird. Ob sich aus dieser Art von tänzerischer Sozialisation ein besseres, humaneres Leben ergibt, daran habe ich doch erhebliche Zweifel, denn der Wettbewerbsdruck, der unbedingte Wille einander übertreffen zu wollen, ist auch hier enorm.

 

Kommentare

Noch keine Beiträge