Was war, was blieb in Erinnerung?

Eine sehr persönliche Bilanz der Ballett-Spielzeit 2004/05

oe
Stuttgart, 03/08/2005

Wieder ist daran zu erinnern, dass dies ein persönliches Resümee ist – bei dem mir bewusst wird, was ich alles nicht miterlebt habe – hinterher dann oft auch, was ich vergessen habe. Sei‘s drum! Für das absolute Top-Ereignis der Spielzeit halte ich – und wohl nicht nur ich, sondern alle, die dabei gewesen sind – das 3. Bournonville-Festival in Kopenhagen. Wichtigstes deutsches Top-Ereignis scheint mir die neue Positionierung der Forsythe Company zu sein. Die stimmigste und beglückendste neue Choreografie, die ich gesehen habe – sogar noch ein zweites Mal, um mich zu vergewissern – war „allem nah, allem fern“ von Heinz Spoerli zu Gustav Mahlers Fünfter Sinfonie in Zürich.

Die beiden Juniorenchoreografen, von denen ich mir viel für die Zukunft erhoffe, sind Marco Goecke, Stuttgart/Hamburg, und Terence Kohler, Karlsruhe. Für kontinuierliche Qualitätsarbeit in den kleineren Kompanien geht „der oe“ an das ballettmainz unter Martin Schläpfer und an das Karlsruher Ballett unter Birgit Keil. Eher Sorgen bereitet mir die Entwicklung in Nürnberg, wo Daniela Kurz, unterstützt von der Intendanz, ungewöhnlich ambitionierte Programme von solider Qualität mit ihrer hochmotivierten Kompanie entwickelt, die mit großer Begeisterung vom Premierenpublikum und insgesamt sehr positiver Zustimmung der Kritik aufgenommen werden, beim „normalen“ Abo-Publikum hingegen eher als Knochenbeilage zu den Opernvorstellungen goutiert werden. Im Gegensatz zu Mainz und Karlsruhe kann beim Nürnberger Publikum von einer Identifikation mit „seiner“ Ballettkompanie nicht die Rede sein.

Einigermaßen hoffnungsvoll, wenn dort so intensiv weitergearbeitet wird wie in den letzten Monaten, stimmt mich die Neuformierung des Staatsballetts Berlin. Nerven tut mich allerdings nachgerade das marktschreierische Statement, Deutschlands größte Ballettkompanie zu sein. Und was den Anspruch betrifft, zu dem halben Dutzend der bedeutendsten Kompanien der Welt gehören zu wollen – ist ja aller Ehren wert, aber bis dahin ist es noch ein langer, langer Weg. Die beiden besten Klassiker-Einstudierungen waren für mich „Giselle“ von Peter Wright in Karlsruhe und „La Fille mal gardée“ à la Ashton in Hamburg. Dereviankos „Don Quixote“ in Dresden habe ich leider nicht gesehen.

Als innovativste Ballett-Uraufführung hat mich „Tanzsuite“ von Martin Schläpfer in Mainz überrascht, dem es gelungen ist, Helmut Lachenmanns widerborstige Musik choreografisch so zu veredeln, dass sie ausgesprochen schön zu klingen scheint. Als Weltklasse-Avancement einer in Deutschland tätigen Ballerina sehe ich Lucia Lacarras Debüt als Nikija in der Münchner „Bayadère“. Als unverwechselbar persönlich profilierte Charakterdarstellungen in deutschen Kompanien engagierter Principal Dancers sind mir Jiří und Otto Bubeníček in ihren diversen Rollen der Hamburger „Tod in Venedig“-Uraufführung von John Neumeier in Erinnerung geblieben ... Junge Tänzer, die – meine – besondere Aufmerksamkeit auf sich gezogen haben, sind Arsen Megrabian, Hamburg, als Jaschu in Neumeiers „Tod in Venedig“, Vitali Safronkine, Zürich, in Lin Hwai-mins „Smoke“, und Flavio Salamanka, Karlsruhe, in diversen Rollen.

Die traurigsten Abschiede, die uns in dieser Spielzeit aufgezwungen wurden, waren die von Uwe Scholz in Leipzig, von Giora Manor in Israel und von Heinz Laurenzen in Köln. Auch rückte der zweite Todestag von Bernd Krause erneut ins Bewusstsein, wie sehr er der Stuttgarter Tanzszene fehlt. Zu den wichtigsten der mir bekannt gewordenen Publikationen über den Tanz zähle ich Helmut Kirchmeyers „Kommentiertes Verzeichnis der Werke und Werkausgaben Igor Strawinskys“ (kj 5.2.2005) und Maja Langsdorffs „Ballett – und dann?“ (kj 1.12.2004). Von den neuen DVDs finde ich am interessantesten und informativsten: „Ashton to Stravinsky: A Study of Four Ballets with Choreography by Frederick Ashton“ (kj 6.4.2005) und „The Bournonville School – the DVD“ (zusammen mit den Büchern „The Bournonville School – the Dance Programme“ und „The Bournonville School – the Music“).

Der beglückendste neue Tanzfilm war für mich „Rhythm is it“ mit Royston Maldoom. Als beste, rundum gelungene TV-Produktion werte ich Norbert Beilharz‘ „Der andere Liebestod“ mit John Neumeier als Interviewpartner über sein Ballett „Tod in Venedig“, SWR 3 – überzeugender als das meiner Meinung nach durch die Fehlbesetzung der Rolle des Tadzio nur halb geglückte Ballett selbst. Für die bedenklichste Fehlentwicklung halte ich nach wie vor die fortschreitende Erosion der Tanzberichterstattung in den deutschen Tageszeitungen – sowie den Alleinvertretungsanspruch einer einzigen Kritikerin in der mit einer ganzen Equipe von Musikkritikern ausgestatteten FAZ.

Die enttäuschendste Publikumserfahrung war für mich die Unsensibilität des Publikums für die exzeptionelle Qualität des choreografischen Oeuvres von Frederick Ashton (wie seinerzeit schon beim Gastspiel des Birmingham Royal Ballet in Stuttgart, so auch diesmal wieder in Hamburg). Geärgert hat mich das dümmliche, jeglicher historischen Entwicklung Hohn sprechende Statement unseres Frankfurt-Dresdner Ballettmannes, der in der Stuttgarter Zeitung vom 3. Juni 2005 zitiert wird mit „Es gehe ihm auch um die Emanzipation des Tanzes von der Musik. ‚Tanz war immer unzulänglich, die Musik richtig zu interpretieren‘, sagt der Choreograf. Zudem habe er das Primat der Musik über den Tanz, wo eine richtige oder falsche Umsetzung der musikalischen Vorlage gelte, immer langweilig gefunden.“ Der Arme! Petipas Schattenakt aus „La Bayadère“, Balanchines „Four Temperaments“, Ashtons „Enigma Variations“ und van Manens „Squares“ langweilig? Dem Mann ist offenbar nicht zu helfen!

Schließlich noch ein Wunsch: dass sich einmal ein wissenschaftlich ambitionierter Tanzhistoriker der Untersuchung des Themas Homosexualität im Ballett vor 1900 annehmen möge. Zum Schluss noch die Verleihung des „Sonder-oe“ – er geht an Reid Anderson für seine Risikobereitschaft und sein Flair im Aufspüren interessanter junger Choreografen. Das war‘s denn also! In diesem Sinne wünsche ich allen „Usern“ des koeglerjournals erholsame Sommerwochen. Wir kontaktieren einander dann wieder hoffentlich zu Beginn der neuen Saison.

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