Wider die Verächter von Ballettmusik

Zwei neue CDs mit Jean Françaix´ „Le Roi nu“ und Eduard Tubins „Kratt“

oe
Stuttgart, 01/08/2005

Keine Frage: Tschaikowsky und Prokofjew gehören zu den erfolgreichsten Ballettkomponisten aller Zeiten – und in gewisser Weise gilt das auch noch für Strawinsky. Danach wird es allerdings ziemlich dünn. Entsinnt sich heute noch jemand an Egks „Abraxas“ oder Blachers „Hamlet“, die zumindest in unseren Landen zu den meist aufgeführten Balletten in den Nachkriegsjahren gehörten? Wann hat es die letzte Neuproduktion von Henzes „Undine“ gegeben – wann eins der Werke des kürzlich verstorbenen, so ausgesprochen ballettaufgeschlossenen Gerald Humel? Und wenn Christian Spuck heute ein neues „Lulu“-Ballett konzipiert, lässt er sich lieber ein Potpourri aus Schostakowitsch-Konzertmusiken arrangieren als sich an Giselher Klebes für Tatjana Gsovsky komponierte „Menagerie“ zu halten.

Es hat den Anschein, als ob unsere Choreografen, wenn sie ein neues Ballett konzipieren, eine geradezu panische Angst vor bereits existierenden Ballettmusiken haben. Dass sie lieber auf konzertante Kompositionen ausweichen als sich einer Komposition zu bedienen, die eigens für den von ihnen geplanten Stoff entstanden ist. Wie beispielsweise letzthin wieder bei Stephan Thoss‘ „Othello“ oder bei Bernd Schindowskis „‘adame miroir“.

Zwei neue CDs veranlassen mich, erneut über diese problematische Entwicklung nachzudenken. So hat es in diesem Jubiläumsjahr anlässlich des 200. Geburtstags von Hans Christian Andersen eine ganze Reihe von Andersen-Balletten gegeben, darunter auch das pompöse, von John Neumeier bei seiner derzeitigen favorisierten Komponistin Lera Auerbach in Auftrag gegebene „Den lille Havfrue“ alias „Die kleine Meerjungfrau“ für das Königlich Dänische Ballett. Indessen scheint sich niemand daran erinnert zu haben, dass bereits ein sehr hübsches, ausgesprochen charmantes Andersen-Ballett existiert, das direkt dazu herausfordert, getanzt zu werden: „Le roi nu“ oder „Des Kaisers neue Kleider“ von Jean Françaix, uraufgeführt 1936 von Serge Lifar.

Das ist ein ständig schmunzeln machendes Zwölf-Nummern-Stück, brillant instrumentiert – so witzig in seinem übersprudelnden Ideenreichtum, dass man versucht ist, Françaix als Siebten zum Ehrenmitglied der berühmten französischen Komponistengruppe Les Six zu ernennen. Thierry Fischer hat es mit dem Ulster Orchestra als ein Feuerwerk der musikalischen Pointen eingespielt – und auf der zweiten Hälfte der insgesamt 62 Minuten dauernden CD noch ein weiteres Ballett von Françaix: „Les demoiselles de la nuit“, für das kein Geringerer als Jean Anouilh das Libretto geschrieben hat, und das in der von Roland Petit choreografierten Uraufführungsversion 1948 mit Margot Fonteyn und Jean Babilée geradezu Kultstatus errang (auf hyperion CDA 67489). Zumindest der „Roi nu“ sei Birgit Keil in Karlsruhe und Bernd Schindowski in Gelsenkirchen (aber auch Heinz Spoerli in Zürich) mit Nachdruck für ihre Jugendprojekte ans Herz gelegt!

Die andere Neuerscheinung, die ich als geradezu sensationell empfinde, ist der Ballettvierakter „Kratt“ vom estnischen Komponisten Eduard Tubin (1905-1982), der bei uns hauptsächlich als Sinfoniker bekannt geworden ist – der sich hier aber als ein Theaterkomponist mit ausgesprochenem Sinn für starke dramatische Kontraste auszeichnet. Darin erweist er sich quasi als Gegenspieler zu seinem eine Generation jüngeren Landsmann, dem so dezidiert introvertierten Arvo Pärt. Die Story dieses 1943 uraufgeführten (später mehrfach überarbeiteten), auf estnischen und skandinavischen Folkloremotiven beruhenden Balletts über eine Art Golem-Charakter ist für uns heute ziemlich ungenießbar.

Aber die Musik entfesselt eine Kraft und einen vorandrängenden Drive, nicht zu reden von ihrer rhythmischen Aggressivität – Einflüsse von Kodály, aber auch von Bartók und Schostakowitsch sind unüberhörbar –, dass man sich wünscht, jemand würde ein total neues Libretto dazu erfinden (warum nicht mit einer modernen E. T.-Gestalt – vielleicht auch als Science-Fiction-Animation – oder wie wäre es mit einer Episode aus Harry Potter?). Die Musik hätte es wahrlich verdient (zusammen mit Tubins dreisätziger Sinfonietta über estnische Motive, wuchtig eingespielt vom Estnischen Nationalen Sinfonieorchester unter Arvo Volmer auf 2 CDs, 115 Minuten, auf Alba Records ABCD 195:1-2, zu beziehen über Klassik Center Kassel).

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