Der Tag der tollen Lifts

Terpsichore hätte ihre Münchner Gala gefallen

München, 23/04/2006

Die Terpsichore-Galas des Bayerischen Staatsballetts sind stets mehr als eine bloße Aneinanderreihung der üblichen Gala-Häppchen. Immer tauchen sie mit einem oder mehreren Stücken in die Tanzgeschichte ein, oft auch mit Verweisen auf die Münchner Balletttradition, oder man lernt hier seltene, vergessene Werke kennen. Diese beispielhafte Dramaturgie, zu der Ballettchef Ivan Liška sicher auch von John Neumeiers Nijinsky-Galas inspiriert wurde, spiegelt sich im vorbildlich dokumentierten Programmheft wieder. Bei der sechsten Gala der Reihe (gezählt wird seit Liškas Amtsantritt) war kein einziges der üblichen Virtuosenstücke wie „Don Quixote“ oder „Schwanensee“ im Angebot. Stattdessen wurde der Einblick in Frederick Ashtons Œuvre um zwei neue Aspekte bereichert, die dem Ansehen des vermeintlich langweiligen Briten in Deutschland zuträglich sein mögen, es gab Kirov à la Moderne und weitere seltene Werke.

Wie schon in der ersten Terpsichore-Gala tanzten vier Münchner Ballerinen Leonid Jacobsons „Pas de quatre“, eine Nachempfindung des verlorenen Originals von Jules Perrot aus dem Jahr 1845 für die vier berühmtesten Ballerinen der damaligen Zeit. Mit feinster Fußarbeit und wehenden Tutus evozierten Roberta Fernandes, Natalia Kalinitchenko, Séverine Ferrolier und Lisa-Maree Cullum das Urbild der romantischen Ballerina. Eine Reise in die Vergangenheit unternahm auch Sherelle Charge mit den „Five Brahms Waltzes in the Manner of Isadora Duncan“. Ganz im Stil der skandalträchtigen Predigerin des natürlichen Tanzes hat Frederick Ashton einfache und klare Bewegungen entworfen, auf nackter Sohle und in der typischen losen Tunika. Charge vermittelte nicht nur das Revolutionäre dieses expressiven, lyrischen Tanzens, sie berührte durch die freie, kindliche Freude der Duncan am Tanz.

Wieder anders, nämlich voller Übermut, zeigte sich Ashton im „Frühlingsstimmen-Walzer“ von Johann Strauß, entstanden als Gala-Einlage für eine „Fledermaus“ in Covent Garden. Mit elfengleicher Leichtigkeit flog Alina Cojocaru den Gesetzen der Schwerkraft davon, überstrahlte jeden Frühling und schwebte in den mühelosen, einarmigen Hebungen von Johan Kobborg dahin. Die Rumänin und der Däne vom Royal Ballet zeigten auch noch den Balkon-Pas-de-deux aus „Romeo und Julia“, und zwar in der Londoner Fassung von Kenneth MacMillan, die jedem Cranko-Liebhaber Stirnrunzeln bereitet. Während Kobborg das virtuos statt emotional geratene Solo Romeos recht routiniert absolvierte, ist und bleibt Cojocaru ein Weltwunder – wie nur bei den wirklich großen Künstlern geht ihre technische Perfektion, ihr Virtuosentum, ganz und gar im Ausdruck und in der Interpretation auf. Allein ihr zuzuschauen, wie die scheue Unsicherheit Julias von der erwachenden Liebe hinweggefegt wird, wie sie sich immer rückhaltloser in dieses neue Gefühl hineinwirft, war den Besuch dieser Gala wert.

Es war ein Abend der schwierigen Hebungen – neben Kobborg tat sich darin besonders der Stuttgarter Jason Reilly in „Legende“ hervor, der Maria Eichwald in immer kühneren Lifts in lichte Höhen hinaufwarf. Von John Cranko einst für eine Gala in München auf Marcia Haydée und Richard Cragun choreografiert, evoziert der Pas de deux zur elegischen Musik von Henrik Wieniawski die magische Atmosphäre eines alten Märchenbuchs. Eichwald wehte wie ein Herbstblatt über die Bühne (wenngleich man auch hier, wie in „Onegin“, die schönen Arme Marcia Haydées vermisst), auch Reilly widerstand elegant dem großen Pathos-Potenzial des Stücks und erwies sich wieder einmal als superber Partner, wenn auch die erste Hebung eigentlich länger dauern sollte.

Die Gäste aus St. Petersburg zeigten Forsythe à la Mariinsky, und noch immer fehlt dem „Vertiginous Thrill of Exactitude“ die Ironie. Natürlich tanzen Irina Golub, Nadezhda Gonchar, Jekaterina Osmolkina, Andrian Fadeyev und Leonid Sarafanov virtuos, völlig exakt und vor allem hochmusikalisch, aber sie kicken die Beine nicht so peitschend hinaus, sie schieben die Hüfte nicht so frech nach vorne, und aus den Port de bras ist der letzte Rest an Kirov-Schönheit einfach nicht zu verdrängen. Manchmal hat man den Eindruck, als fehle es den Russen auch an Schnelligkeit, einem der wichtigsten Markenzeichen Forsythes in dieser Periode. Allein der junge Leonid Sarafanov nähert sich hier dem „amerikanischen“ Stil – hoffentlich ohne darüber seinen russischen zu verlieren.

Unter den Münchner Tänzern brillierte vor allem Alen Bottaini, der im Augenblick alle positiven Eigenschaften des gereiften Tänzers in sich vereint: eine souveräne Technik, eine starke Persönlichkeit und eine große Intensität, die Lust an jedem Tanzschritt. In „My Way“ von Stephan Thoss, schon wegen der Musik ein Erfolg auf jeder Gala, nahm er den Triumph in Frank Sinatras Stimme mit seinem Körper auf und machte durch seine starke Präsenz Lukas Slavicky sozusagen zum Juniorpartner in diesem Männer-Pas-de-deux.

Mit Maria Eichwald war das Gleichgewicht wieder hergestellt, allerdings spielte Pianistin Dascha Lenek die Chopin-Ballade zum letzten Pas de deux aus John Neumeiers „Kameliendame“ so schnell, dass aus dem verzweifelten, wütenden Liebesdrama fast ein Virtuosenstück wurde, in dem das Überwinden der tiefen Verletzung Armands und Marguerites Wissen um ihren baldigen Tod ein wenig untergingen. In George Balanchines prachtvollem „Sylvia Pas de deux“ war Roman Lazik mit einer Reihe Double Tours überfordert, obwohl Myron Romanul die schöne Musik von Léo Delibes schon sehr langsam dirigierte. Angesichts eines derart faden Gegenübers kam sogar die ansonsten bombensichere Lisa-Maree Cullum mit ihren doppelten Fouettés ins Trudeln. Der Pas de deux „La Prisonnière“ aus Roland Petits „Proust“-Ballett beeindruckte durch Lucia Lacarras expressiven Körper und ihre geradezu symbiotische Partnerschaft mit Cyril Pierre – wobei selbst in diesem kurzen Stück Petits merkwürdige Arbeitsweise auffiel, jeden choreografischen Einfall dreimal zu wiederholen. Auch Crankos „Legende“ wirkt heutzutage pathetisch, aber Petits Pathos hat etwas Aufgesetztes, Prätentiöses. Mit der wahrlich unnötigen Wiederholung von „Vivacissimo“, einer Pièce d'occasion von Ivan Liška, endete die schöne Gala auf einem Frage- statt einem Ausrufezeichen. Wenn es im Ballett Zugaben gäbe, hätte das Münchner Publikum (darunter auch eine ganz Busladung Stuttgarter Ballettomanen, denen das Programm zuhause offensichtlich zu langweilig ist) an diesem Abend sicher einige erklatscht.

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