Tanz muss eine nachvollziehbare Logik haben
„Er… Sie… und andere Geschichten“ von Renate Graziadei und Arthur Stäldi
Wenn der Film Choreografie unter die Fittiche seiner technischen Errungenschaften nimmt, werden Effekte möglich, von denen der Bühnentänzer nur träumen kann – höher zu springen, länger in der Luft zu verharren, mehr Pirouetten zu drehen, als die normale Bodenreibung gestattet. Was aber, wenn der Tänzer und sein filmisches Abbild gleichzeitig agieren, wenn sich der Mensch in Korrespondenz oder gar Konkurrenz zu seiner Leinwandwiedergabe begibt und dadurch so etwas wie ein Dialog der Ungleichen entsteht? Ansatzweise und als Teil einer Produktion hat man das bereits des Öfteren gesehen, nicht jedoch in der Konsequenz, mit der die Berliner Gruppe LaborGras jenes Wechselspiel zwischen Realität und Virtualität in den Mittelpunkt eines Projekts rückt.
In ein Studio der Akademie der Künste am Hanseatenweg hat LaborGras einen wabenähnlichen Raum gebaut und ihn diagonal geteilt. Auf der einen Hälfte jenes Fünfecks aus Leinwänden sitzen auf Parkettboden die Zuschauer, die teppichbelegte Hälfte gehört dem Tanz. Eine Konstruktion aus mehreren Festkameras zeichnet dabei simultan auf, was dem jeweiligen Solisten seine Bewegungsfantasie eingibt, und wirft die Bilder computergesteuert auf die verschiedenen Leinwände. Von dort aus tanzt sich der Abbild gewordene Live-Akteur selbst entgegen, phasenverschoben, gedoppelt oder verdreifacht, überlagert, spiegelbildlich oder aus unterschiedlicher Perspektive. Gegen den einen realen Raum versucht sich so ein verfünffachter virtueller Raum zu behaupten, der durch technische Tricks – Wiedergabe der bewegten Figuren weiter vorn oder hinten, größer oder kleiner – auf seiner Flächigkeit Dreidimensionalität simuliert.
Der Mensch auf der Szene bleibt zwar Auslöser des Tanzvorgangs, gerät indes zunehmend in die Funktion des Bildgebers, dessen Abbild wichtiger scheint als das Original. Ob den Tänzer die Ansicht seiner einander verschlingenden und durchdringenden Bewegungskaskaden beeinflusst, sich „kameragemäß“ zu bewegen, ja effektbedacht zu posieren, ist nicht auszuschließen und vielleicht sogar kalkulierter Teil des Disputs mit sich selbst. Die Installation jedenfalls saugt begierig auf, was der tanzende Mensch ihr vorwirft, und lässt es technisiert flüchtiges Bild werden. Und der Zuschauer? Als rundum beflimmerter Sitzact wird er alsbald Teil der Performance, eines Verwirrspiels aus Abbildern und der Selbstdarstellung ihrer Akteure. Praktisch präsentiert sich „I, Myself And Me Again“ als thematisch verknüpfte, physisch fordernde Abfolge mehrerer Soli von 40 Minuten Dauer. Die LaborGras-Mitglieder David Hernandez, Renate Graziadei und Romeu Runa zeichnen mit individueller Bewegungscharakteristik zu Musik von Ralf Krause auch anregende Selbstporträts.
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