Schönheit, vom Himmel gefallen

Glucks „Alceste“, neu inszeniert von Jossi Wieler und Sergio Morabito

oe
Stuttgart, 22/01/2006

Immer wieder als Krönung seines Lebenswerks beschrieben, macht sich Glucks „Alceste“ auf unseren Bühnen äußerst rar. Auch in Stuttgart ist es erst die dritte Inszenierung nach 1945 – obwohl man doch gedacht hätte, dass dies eine Oper ist, die Wieland Wagner, Stuttgarts residentem Gastregisseur, sehr entgegengekommen wäre. Aber sie musste an Walter Erich Schäfers Haus bis 1963 auf ihre erste Produktion nach dem Krieg warten. Und was lese ich da auf dem Besetzungszettel? Musikalische Leitung: Ferdinand Leitner, Inszenierung: Ernst Poettgen, Bühnenbild und Kostüme: Lieselotte Erler, Chor: Heinz Mende, Choreografie: John Cranko – drei Monate nach Crankos „Romeo und Julia“-Premiere (weder in John Percivals Cranko-Biografie noch im Werkverzeichnis des „International Dictionary of Dance“ aufgelistet).

Da versagt selbst oes legendäres Archiv! Umso mehr Informationsmaterial bietet es zu Robert Wilsons Neuinszenierung von 1983. Damals hatte Jessye Norman die Titelrolle singen sollen, hatte dann aber abgesagt, und so sang Dunja Vejzovic die Alceste. Dirigent war Christoph Eschenbach, ein Newcomer als Opernmann, während für die Choreografie Suzushi Haya verantwortlich war. Und gleich nach dem Admetos von Jon Garrison genannt: Eine Frau, die bei Gluck gar nicht vorkommt: Sheryl Sutton – außerdem beteiligt ein zwölfköpfiger Frauen-Bewegungschor (und übrigens schon damals, wie auch jetzt wieder, Michael Ebbecke als Herakles).

Das war nun eine Inszenierung, in der es mehr auf die Lichtwunder als auf die Menschen auf der Bühne ankam, und wie Wilson seine geometrischen Kuben auf und über der Szene bewegte. oe also damals in der „Stuttgarter Zeitung“ (das waren noch Zeiten!): „Das ist alles so berückend anzusehen wie die nach strengen ritualistischen Mustern sich auf der Szene bewegenden Figuren mit ihrer Zeichensprache, ihren bewegungslos vor sich ausgestreckten Armen und Händen, wo dann eine einzige Wendung des Handgelenks, ein hochgeworfener Unterarm, ein angezogenes Knie, ein sanftes Zur-Erde-Gleiten einen unerhört starken dramatischen Akzent setzt. Bewegung meint hier immer Choreografie. Das Idealmaß der Bewegung setzt die durch alle drei Akte geführte Figur der Frau. Ein betörend schlankes, androgynes Geschöpf, das meist in Profilhaltung wie von einer Vase abgenommen durch den Raum gleitet, geschmeidig-lautlos, das platonische Prinzip Frau oder die Seele der Alceste.“ Um nur daran zu erinnern: Alceste ist die Frau, die für ihren dem Tod geweihten Gatten zu sterben bereit ist, im letzten Augenblick, unmittelbar vor dem Höllentor, dann aber doch noch durch das Eingreifen von Herkules gerettet wird.

Die jetzige Neuinszenierung bedient sich der späteren französischen Fassung als Tragische Oper von 1776. Sie ist ein Produkt der Partnerschaft von Jossi Wieler und Sergio Morabito (Regie und Dramaturgie) mit ihrer ständigen Bühnen- und Kostümausstatterin Anna Viebrock, wird dirigiert von Constantinos Carydis, mit Catherine Naglestad als Alceste und Donald Kaasch als Admète. Ein Choreograf wird nicht genannt – auch kein besonderer Bewegungschor. Es ist eine moderne Inszenierung, in heutiger Kleidung, in heutiger anonymer Umgebung, so dass man den klagenden Chor um ihren mit dem Tode ringenden König vor der lichten Krankenhauswand sehr wohl für die Volksmenge halten kann, die sich vor dem Hospital eingefunden hat, um ihre Anteilnahme am Schicksal Ariel Sharons zu bezeigen und ihn mit ihren Schreien aus seinem Koma herauszuholen.

Nein, ein Ballett gibt es in dieser Inszenierung nicht, lediglich ein paar unbeholfene Tanzschrittchen einmal von Admète und, eher peinlich berührt, vom nacktfüßigen Apollo. Es gibt aber jede Menge von Einlagen, die eigentlich vom Ballett ausgeführt werden sollten, als Tänze oder Pantomimen. Sie sind musikalisch so berückend schön, dass sich kein musikalisch ernstzunehmender Regisseur leisten könnte, darauf zu verzichten. Wieler/Morabito illustrieren sie mit allerlei pantomimischem Schnickschnack und auch mit einem ausgedehnten Konzert hinter der Szene (der Chor versammelt sich wiederholt in Räumen, die einer Sekte für ihre Andachten dienen könnten), und zur ausladenden Chaconne am Schluss (man hat den Eindruck, dass sie wohl an die zehn Minuten dauert), in der nun überhaupt nichts mehr geschieht, sondern die Beteiligten sich mehr oder weniger vorwurfsvoll stumme Blicke zuwerfen (und mit Wotan nur noch auf das „Ende“ zu warten scheinen). Im Übrigen haben sie sich für alle drei Akte Spiele der beiden Kinder ausgedacht, die einem schon im Eingangschor gründlich auf die Nerven gehen, zwischendurch unentwegt Stühle transportieren müssen und im zweiten Akt sich zu einer Hintergrundaktion à la Friedhof der Kuscheltiere verdichten.

Auch die großartige Leistung Catherine Nagelestads in der Titelrolle, die sich vor so berühmten Vorbildern wie Inge Borkh, Maria Callas, Kirsten Flagstad, Shirley Verrett und Jessye Norman nicht zu verstecken braucht, kann die neue Stuttgarter „Alceste“, die sich in ihrer Ausstattung so ausgesprochen kleinbürgerlich-spießig gibt, nicht vor ihrer musikalischen Petrifizierung in Schönheit retten. Total erschöpft verlässt man das Haus am Eckensee, harrend des Regisseurs, der „Alceste“ aus ihrer schon von Rousseau beklagten Statik erlöst, als er stöhnte: „Ich kenne keine Oper, in welcher die Leidenschaften weniger abwechseln, als in der Alceste. Alles bewegt sich darin fast ausschließlich in zwei Empfindungen: Trauer und Schrecken.“ Ich dachte an die viel zitierte Reaktion zweier Pariser Uraufführungsgäste am 23. April 1776, von denen der eine konstatierte: „Alceste ist gefallen!“ Worauf der andere antwortete: „Ja, aber vom Himmel!“

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