Jason Reilly verlässt das Stuttgarter Ballett

Der Erste Solist geht nach Kanada zurück

Stuttgart, 20/01/2009

Nach zwölf Jahren beim Stuttgarter Ballett zieht es den gebürtigen Kanadier Jason Reilly zurück in die Heimat. Persönliche Beweggründe gaben den Ausschlag bei dieser Entscheidung. „Beruflich gibt es für mich hier keine unerfüllten Wünsche,“ betont der Erste Solist „das ist es auch, was mir diesen Schritt so unglaublich schwer macht. Was ich als Tänzer bin, verdanke ich dieser Kompanie und Reid Anderson, der mich gefördert und vor allem gefordert hat, und der mir immer wieder die Gelegenheit gab, über mich hinaus zu wachsen, durch die Rollen, die ich hier tanzen durfte. Ich war erst 17, als ich von Toronto nach Stuttgart ging und Reid ist für mich immer mehr gewesen, als mein Ballettdirektor: Er hat sich um all die Dinge gekümmert, um die sich meine Eltern aus der Entfernung nicht kümmern konnten. Im Hinterkopf hatte ich eigentlich immer die Vorstellung, dass ich mindestens so lange in Stuttgart bleibe, wie er die Kompanie leitet. Aber ich werde im nächsten Jahr dreißig, da muss man als Tänzer darüber nachdenken, wie man sich seine weitere Zukunft vorstellt. Ich hatte immer vor, nach Beendigung meiner Bühnekarriere wieder in Kanada zu leben. Natürlich hoffe ich, noch einige, vielleicht sogar viele Jahre tanzen zu können. Und, ganz klar, würde ich dies am liebsten hier bei der Kompanie tun, mit der ich als Tänzer groß geworden bin und wo ich mich als Künstler zu Hause fühle. Doch wurde mir in letzter Zeit immer bewußter, dass ich den darauf folgenden Lebensabschnitt nicht einfach auf mich zukommen lassen kann. Ich bin der Meinung, dass es wichtig ist, die kommenden Jahre dazu zu nutzen, mir in Kanada Perspektiven aufzubauen und Kontakte zu knüpfen, bevor ich mich von der Bühne verabschiede. Hinzu kommt, dass mir die Trennung von meiner Familie immer schwerer fällt. Ich habe mich viele Jahre lang auf meine Karriere konzentriert und plötzlich wurde mir klar, wie viele wichtige Ereignisse im Leben meiner Eltern und Geschwister ich verpasst habe. Das ist für mich der wichtigste Grund, nach Kanada zurückzukehren: bei meiner Familie zu sein.“ Jason Reilly wird ab der Spielzeit 2009/2010 beim National Ballet of Canada in Toronto als Erster Solist tanzen. Direktorin Karen Kain empfängt den brillanten Alleskönner mit offenen Armen: „Schon als junger Mann an Kanadas Staatlicher Ballettschule hat Jason bei mir einen tiefen Eindruck hinterlassen. Ich bewunderte sein großes Talent und habe im Lauf der Jahre mit großer Freude seine Karriere und seine Erfolge in Europa verfolgt. Später hatte ich dann das Vergnügen, zu beobachten, wie er unser Publikum bei einer Reihe von Gastauftritten begeisterte. Unter der Führung und Fürsorge von Reid Anderson hat er sich zu einem außergewöhnlichen Tänzer entwickelt und sein Künstlertum wird eine große Bereicherung für unsere Kompanie sein. Ich freue mich sehr, dass er mit der kommenden Spielzeit als Erster Solist zum National Ballet of Canada kommt. Es ist wunderbar, dass er nach Hause zurückkehrt“, so Karen Kain, die Künstlerische Leiterin des National Ballet of Canada, Toronto. Ganz und gar wird Stuttgart jedoch nicht auf den Publikumsliebling verzichten müssen: Die Spielzeiten des Kanadischen Nationalballetts sind in Blöcke geteilt, bei denen jedes Programm ein bis zwei Wochen lang aufgeführt wird, gefolgt von einer mehrwöchigen Spielpause. Spielraum für Gastauftritte in Stuttgart ist also gegeben. Ballettintendant Reid Anderson, der Jason Reilly nach Stuttgart holte und seine Karriere von Anfang an begleitet und gefördert hat, unterstützt die Pläne seines kanadischen Landsmanns, auch wenn der Abschied in diesem Fall besonders schwer fällt: „Es fällt schwer, sich das Stuttgarter Ballett ohne Jason Reilly vorzustellen“, so Reid Anderson „denn er ist inzwischen eine ganz feste Größe in der Kompanie geworden, Teil unserer Ballettfamilie. So sehr es mich schmerzt, ihn zu verlieren, kann ich seine Entscheidung verstehen. Jason möchte nach Hause zurückkehren – zu seiner richtigen Familie. Er möchte in der Stadt leben, in der er geboren wurdeund wenn er tanzt möchte er seine Freunde und Familie im Publikum sehen. Er will eine Grundlage schaffen für seine persönliche und private Zukunft. Ich kenne Jason seit er zehn Jahre alt war. Frisch von der National Ballet School of Canada habe ich ihn nach Stuttgart geholt, da war er gerade mal 17 Jahre alt. Beim Stuttgarter Ballett hat er sich mit unglaublicher Geschwindigkeit nach oben gearbeitet und wurde zu einem der bekanntesten, beliebtesten und vom Publikum am meisten geschätzten Tänzer des Ensembles. Von allen männlichen Tänzern in der Geschichte dieser Kompanie hat er wahrscheinlich das größte Repertoire. Abendfüllende Handlungsballette, die Klassiker, die modernen Meister: er hat alles getanzt und war insbesondere immer ein Favorit der Choreografen. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass es je einen Choreografen gab, der in Stuttgart gewirkt hat, und nicht mit ihm hätte arbeiten wollen. Um es auf den Punkt zu bringen: Jason hinterlässt eine schmerzhafte Lücke in unseren Reihen, nicht nur als großartiger Künstler sondern auch als außergewöhnliche Persönlichkeit und als Freund. Für mich persönlich ist es, als müßte ich einen Sohn verabschieden. Aber, wie man weiß, ist der „Verlorene Sohn“ ja dazu bestimmt, nach Hause zurückzukehren. Jason kehrt in seine Heimat Kanada zurück, wo er zur Welt kam und aufgewachsen ist. Aber ich glaube, dass Stuttgart für ihn ebenfalls ein Zuhause ist und dass er hier immer eine zweite Heimat und eine zweite ‚Familie’ haben wird. Ich habe keinen Zweifel daran, dass wir Jason noch viele Jahre auf der Bühne sehen werden – überall auf der Welt und als Gast des Stuttgarter Balletts.“ Jason Reilly wurde in Toronto, Kanada, geboren. Seine Ausbildung erhielt er an der National Ballet School in Toronto, wo er bereits als Schüler in Balletten wie „Der Nussknacker“ und „Pastorale“ (beide von James Kudelka) tanzte und Choreografen wie Glen Gilmour (in „Boys Dance“), John Neumeier (in „Yondering“) und David Nixon (in „Sudden Impulse“) Rollen für ihn kreierten. 1997 machte er seinen Abschluss in Toronto und wurde anschließend Mitglied beim Stuttgarter Ballett. Nachdem er in der Spielzeit 2001/02 zum Halbsolisten aufgestiegen war, wurde er eine Spielzeit später zum Solisten befördert. Seit 2003/04 ist Jason Reilly Erster Solist beim Stuttgarter Ballett. Aufgrund seiner herausragenden Interpretation klassischer Rollen sowie seiner Ausdrucksstärke und technischen Brillanz in modernen Balletten wurde Reilly wiederholt in den jährlichen Kritikerumfragen der Fachzeitschrift ballettanz zu den profiliertesten Tänzern gezählt. Beim Stuttgarter Ballett hat sich Jason Reilly in kurzer Zeit ein beachtliches Repertoire an Hauptrollen in großen Handlungsballetten bedeutender Choreografen erarbeitet, mehrfach schufen zeitgenössische Choreografen Hauptrollen in Uraufführungen eigens für ihn. Er tanzte die Titelrollen in „Onegin“, in „Romeo und Julia“ (beide von John Cranko) sowie in „Othello“ (John Neumeier). Außerdem verkörperte er Prinz Siegfried in „Schwanensee“, Petrucchio in „Der Widerspenstigen Zähmung“ (beide von John Cranko), den Stierkämpfer in „Carmen“ (John Cranko, Neuinszenierung: Reid Anderson und Georgette Tsinguirides), Herzog Albrecht in „Giselle“ (Inszenierung: Reid Anderson, Valentina Savina), Prinz Desiré und Carabosse in „Dornröschen“ (Marcia Haydée nach Marius Petipa), Stanley Kowalski in „Endstation Sehnsucht“, Gaston Rieux und des Grieux in „Die Kameliendame“ (beide von John Neumeier). Zahlreiche Choreografen haben Rollen speziell für Jason Reilly geschaffen, zuletzt Kevin O’Day die Titelrolle in seinem 2008 beim Stuttgarter Ballett uraufgeführten „Hamlet“. Mauro Bigonzetti choreografierte in „I fratelli – Die Brüder“ die Rolle des Simone für ihn, außerdem Rollen in seinen Balletten „Quattro Danze per Nino“ und „Orma“, Jean Christophe Blavier in „E=mc²“, die Kanadierin Dominique Dumais in „still.nest“, Nicolo Fonte in „Gambling, x 5“, Marco Goecke in „Sweet Sweet Sweet“, Daniela Kurz in „Schere Stein Papier“, Douglas Lee in „Curtain of Hands“ und „Siren Sounding“, Wayne McGregor in „Nautilus“, Marc Spradling in „melodious gimmick to keep the boys in line“ und „The Shaking Tent“. Christian Spuck erarbeitete mit Jason Reilly Rollen in seinen Stücken „Passacaglia“, „Amores I“, „dos amores“, „das siebte blau“, „Carlotta´s Portrait“, „Songs“, „nocturne“ und „Sleepers Chamber“. In seinem ersten abendfüllenden Ballett „Lulu. Eine Monstretragödie“ schuf Christian Spuck die Rolle des Rodrigo für Jason Reilly, in „Der Sandmann“, dem zweiten Handlungsballett für die Stuttgarter Kompanie, kreierte Christian Spuck die Rolle des Coppola für ihn. In „..., la peau blanche...“ schuf Christian Spuck die Rolle des Henri IV. für Jason Reilly. Im Rahmen der Reihe Junge Choreografen der Noverre-Gesellschaft wurden ebenfalls wiederholt Rollen für Jason Reilly geschaffen: von Marco Goecke in „Demi Gods“, von Eric Gauthier in „Ballet 101“ und „Air Guitar“, von Paul Julius in „After Rain and Dreams“, von Alejandro Cerrudo Martinez in „David’s Law“ und von Yoko Tani in „Slipped Boy“. Jason Reilly tanzte bei Tourneen und Gastauftritten auf der ganzen Welt und arbeitete im In-und Ausland mit bedeutenden Tanzpartnerinnen zusammen, darunter Alessandra Ferri, Evelyn Hart und Greta Hodgkinson. Mit der männlichen Titelrolle in Romeo und Julia (John Cranko) machte er auf der USA-Tournee des Stuttgarter Balletts im Jahr 2003 international auf sich aufmerksam. Als die kanadische Starballerina Evelyn Hart im April 2004 beschloss, nach 30-jähriger Bühnenkarriere letztmals die Julia zu tanzen, lud sie Jason Reilly ein, den Part des Romeo zu übernehmen. Außerdem war er ihr Tanzpartner bei ihrem Abschied von der Bühne im Jahr 2006. Im Oktober 2006 tanzte er mehrere Vorstellungen von „Voluntaries“ (Glen Tetley) als Gast des Royal Ballet London; 2007 tanzte er beim National Ballet of Canada an der Seite von Greta Hodgkinson die Rolle des Petrucchio in „Der Widerspenstigen Zähmung“.
Im Februar 2006 erhielt Jason Reilly den Deutschen Tanzpreis Zukunft 2006 im Bereich Tanz. www.stuttgart-ballet.de

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