Er hat den Tanz von allen Fesseln befreit, hat ihm die Unabhängigkeit von Musik, Raum, Drama, Emotion gegeben, ihn so weit wie nur möglich auf die reine Form reduziert. Als Ikone des postmodernen Tanzes feiert der amerikanische Choreograf Merce Cunningham heute seinen 90. Geburtstag in New York mit einem neuen, abendfüllenden Stück namens „Nearly Ninety”, und noch immer verehrt ihn die Avantgarde der amerikanischen Künstler als eines ihrer großen Idole. Gemeinsam mit George Balanchine und Martha Graham zeichnet Cunningham dafür verantwortlich, dass der moderne Tanz seit der Mitte des 20. Jahrhunderts praktisch allein von Amerika aus geprägt wurde.
Schon 1942 trat Cunningham zum ersten Mal solistisch auf, bereits damals zu Musik seines späteren Kunst- und Lebenspartners John Cage. Gemeinsam mit dem wichtigsten amerikanischen Komponisten der Avantgarde entdeckte er den Zufall als zentrales Prinzip ihrer Arbeit. Choreografie, Musik, Bühnenbild und Beleuchtung eines Tanzstücks entstanden unabhängig voneinander und wurden erst kurz vor der Aufführung zusammengefügt, oftmals durch Würfeln aus verschiedenen Möglichkeiten ermittelt. Cunningham wollte die Bewegung von jeglichem Sentiment, den Tanz von aller subjektiven Inspiration und von äußerlichen Bezugspunkten wie beispielsweise einer Geschichte befreien. Er wollte Tanz als reine Form, der nichts repräsentiert, nichts darstellt, nichts abbildet. Es gibt in seinen Stücken keine Höhepunkte, keine Bezüge der Tänzer untereinander oder zur Musik. Stattdessen entscheidet der Zufall über Sequenzen oder Kombinationen, der Zuschauer ist allein verantwortlich dafür, worauf er sich konzentriert und was er interpretiert. Das Zufallsprinzip gilt bis in die kleinsten Formen, es isoliert Bewegungen aus dem akademischen Material und kombiniert sie mit dem, was der Choreograf bei Passanten oder Tieren beobachtet hat.
Zeit seines Lebens arbeitet Cunningham mit anderen Avantgarde-Künstlern zusammen, früher mit Malern wie Robert Rauschenberg, John Jaspers und Andy Warhol, heute immer wieder mit Rockmusikern, etwa von Led Zeppelin. Natürlich gehörte er zu den ersten, die Film, Video und Computer für den Tanz entdeckten, mit seinem Computerprogramm „DanceForms“ entwirft er heute seine Stücke am Bildschirm, bevor sie von lebenden Menschen getanzt werden.
Obwohl immer berühmt, war Cunningham war nie ein Massenstar, seine Stücke sind für kleine Theater oder Studios gemacht, oft zog es ihn auch hinaus auf Straßen und Plätze oder in Museen. Bis ins hohe Alter trat der Choreograf noch selbst mit seiner kleinen, 1953 gegründeten Kompanie auf. Bis heute betreibt er mit ruhiger Konsequenz seine experimentelle Arbeitsweise, bei der Konzept und Entstehungsprozess manchmal aufregender sind als die Kunst, die schließlich entsteht. Seine Tanzstücke erfordern ein anderes Hinsehen, wirken für unsere jahrelang auf Ausdruck oder Symmetrie konditionierten Augen eher trocken und distanziert.
Keine Frage: mit seiner Infragestellung sämtlicher Grundelemente des Bühnentanzes bis auf die reine Bewegung hat Merce Cunningham die Grenzen dieser Kunst weit nach außen verschoben. Der Einfluss seiner revolutionären Ideen ist weiterhin groß. So arbeitet zum Beispiel in Deutschland auch William Forsythe daran, den Tanz von der Musik unabhängig zu machen. Die meisten Choreografen und Zuschauer aber halten sich noch immer an der Musik fest, ordnen den Tanz weiterhin nach Kategorien der Emotion und/oder der inneren Struktur ein. Cunningham ist uns noch immer voraus, er hat Tanz für die reinen Denker geschaffen.
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