Konzept des Pina-Bausch-Archiv vorgestellt

Ein Archiv als Zukunftswerkstatt

Wuppertal, 26/06/2010

In Fortführung des ausdrücklichen Willens von Pina Bausch hat sich die Pina Bausch Stiftung den Erhalt und die Verbreitung ihres Werkes zur Aufgabe gemacht. Die Einrichtung eines Archivs ist hierfür von zentraler Bedeutung. Eine Systematik für die Erfassung und Organisation ihres Werkes in einem Archiv hat Pina Bausch in den letzten Jahren bereits festgelegt. Weiterhin bestimmte sie Kriterien, was in einem Archiv für zukünftige Generationen gesichert und zugänglich gemacht werden soll. Diesen Richtlinien der Autorenschaft Pina Bauschs sieht sich die Stiftung entsprechend ihrer Satzung verpflichtet.
Die zu leistende Archivierung des Werkes von Pina Bausch ist unabdingbar mit dem verkörperten Wissen und dem Erfahrungshorizont der Tänzer und Mitarbeiter des Tanztheater Wuppertal sowie ihrer engsten Vertrauten verbunden. Sie bilden einen über die Jahrzehnte gewachsenen und beispiellosen Wissenspool. Einen lebendigen Speicher, ohne den eine adäquate Archivierung im Sinne von Pina Bausch nicht denkbar ist. Bereits seit 2007 hat Pina Bausch damit begonnen mit einzelnen Tänzern, Assistenten und Ehemaligen den Videobestand einzelner Stücke anhand von festgelegten Parametern zu sichten und semantisch zu erschließen.
Der Bestand des zu erarbeitenden Archivs umfasst das gesamte Werk von Pina Bausch. Er beinhaltet Produktionsmaterialien zu mehr als 46 Stücken, darunter ca. 7.500 Videos, Regiebücher, Bühnenbilder auf ca. 3.500 qm, technische Anweisungen, Kostüme, Requisiten, Musiken etc. Besondere Bedeutung kommt hierbei den Arbeiten von Rolf Borzik, Peter Pabst und Marion Cito zu. Persönliche Arbeitsmappen und Manuskripte von Pina Bausch sind Zeugnisse des Entstehungsprozesses der Stücke. Sie bestehen aus ihren jeweiligen Arbeitsblättern mit den gestellten Fragen während des Probenprozesses, Ideen und Skizzen sowie Titellisten. Den jeweiligen Stücken sind Sekundärquellen wie Programmhefte, Plakate von Gastspielen, Pressematerialien mit mehr als 35.000 Kritiken sowie Fotos zuzuordnen. Persönliche Korrespondenzen, Briefe, Filme, Reden, Preise und Interviews komplettieren den Bestand. Gegenwärtig befindet sich das Material in Büro, Lager und Depots des Tanztheater Wuppertal, sowie in der ehemaligen Wohnung von Pina Bausch. Die vollständige Erfassung dieses Materials stellt den ersten Schritt zur Sicherung des Werkes dar. Unter Federführung der Stiftung soll die Erschließung und Archivierung im Sinne von Pina Bausch in Zusammenarbeit mit den Tänzern und Mitarbeitern des Tanztheater Wuppertal geschehen. Koordiniert wird dieses von einem gemeinsamen Beauftragten in den Räumen des Tanztheater Wuppertal. Ein interdisziplinäres Netzwerk aus Wissenschaftlern und Experten begleitet den Prozess der Archivierung und die Erschließung des Bestandes fachgerecht. Konservatorische Aspekte sowie Vernetzungsmöglichkeiten der Materialien (Indexierungen, Metadaten etc.) werden diskutiert. Ziel ist es, innovative Vorgehensweisen im Bereich Archiv zu entwickeln. Für die Einbeziehung der Bühnenbilder und Kostüme in das Archiv hält die Stiftung die Mitwirkung der künstlerisch verantwortlichen Personen – Peter Pabst (Bühnenbild) und Marion Cito (Kostüm) – für unentbehrlich. Ferner ist an eine Erweiterung des Bestandes, z.B. durch systematisch geführte Interviews mit Tänzern gedacht, um mündlich überlieferte Erfahrungen auch für zukünftige Generationen zu erhalten. Für die Erschließung und Archivierung des Bestandes geht die Stiftung derzeit von einem Zeitraum von 5 Jahren aus. Erste Ergebnisse sollen bereits 2013 veröffentlicht werden. Dem Netzwerk Innovation + Qualität sind die Bereiche ‘Digitalisierung’ und ‘Datenbank’ zugeordnet.
Primäre Ziele im Bereich Digitalisierung sind Konzeption und Planung (Organisation, Workflow etc.) der Digitalisierung. Diese müssen mit dem Netzwerk Innovation + Qualität und dem Bereich Datenbank abgestimmt und koordiniert werden (Metadaten, Indexierung, Parameter, spätere Vernetzung zu anderen Institutionen). Der gesamte Workflow wird aus den Räumen des Tanztheaters heraus koordiniert. So wird sichergestellt, dass die Materialien für die Produktionsprozesse des Tanztheaters zur Verfügung stehen. Zudem werden Absprachen mit den verschiedenen Departments des Tanztheaters vereinfacht. Eine beratende Begleitung kann aufgrund der langjähriger Erfahrung im Aufbau eines Archivs für Medienkunst z.B. durch das ‘imai’ (inter media art institute) in Düsseldorf erfolgen. Ergänzend soll eng mit einem kompetenten IT- Partner kooperiert werden. Ziele im Bereich Datenbank sind deren konzeptionelle Planung und die Beaufsichtigung der informationstechnischen Erstellung. Gesucht wird ein IT-Partner, der Erfahrung bei der Entwicklung und Erstellung solcher Datenbanken hat. Dabei müssen diverse Arten von Digitalisaten in eine Gesamtdatenbank integriert werden: Regiebücher, audiovisuelle Materialien wie Videos und Projektionen, Printmedien wie Rezensionen, Programmhefte und Poster, Musiken etc. Dieses muss in enger Absprache mit dem Netzwerk Innovation + Qualität geschehen, das mögliche Parameter wie Metadaten, Indexierungen sowie eine spätere Vernetzung zu anderen Institutionen diskutiert. Ferner wird ein detailliertes Nutzungskonzept für das ‘Digitale Archiv’ erarbeitet werden. Diskutiert wird (1.) ein allgemeiner, öffentlicher Zugang für Besucher des Archivs, (2.) eine qualifizierte Zugriffsmöglichkeit im Rahmen nationaler und internationaler Kooperationen mit Hochschulen (wie möglicherweise der Folkwang Universität in Essen, Juilliard School of Music in New York City etc.) und anderen Institutionen sowie (3.) ein öffentlicher Online-Zugang zum Archiv. Letztere Möglichkeit muss in rechtlicher Hinsicht,insbesondere im Hinblick auf Nutzungs- und Verbreitungsrechte von Musikstücken geprüft werden.
Als Studien- und Forschungszentrum ist das Pina Bausch Archiv Anziehungspunkt und Zentrum einer weltweiten Auseinandersetzung mit dem Werk von Pina Bausch. Die enge Beziehung zum Tanztheater Wuppertal, seinen Tänzern und Ehemaligen bietet die wertvolle Chance, theoretische und praktische Arbeit ineinander fließen zu lassen. Das Archiv wird nicht nur ein Forschungszentrum in den Bereichen der Darstellenden und Bildenden Künste sein, sondern will gleichzeitig eine wissenschaftliche Diskussion in den Kunst- und Humanwissenschaften (der Tanz- und Theaterwissenschaft, den Performance und Rehearsal Studies, sowie der Sozial- und Kulturwissenschaft) anregen. Beabsichtigt ist die weltweite Anbindung an richtungsweisende Institutionen und Hochschulen. Im Sinne von Pina Bausch soll diese Vernetzung unterschiedlichste Kulturen, Disziplinen und Erfahrungshorizonte zusammenbringen. Beispielsweise könnten in Zusammenarbeit mit der Folkwang Universität internationale Studenten aus den Bereichen Tanz, Schauspiel und Design an das Archiv gebunden werden. Symposien und Sommerprogramme führender Wissenschaftler könnten die Aktivitäten des Archivs ergänzen.
Innerhalb eines KünstlerLab sollen sich junge Choreografen mit dem Werk von Pina Bausch auseinandersetzen. Über Stipendien oder choreografische Preise kann dies stimuliert werden. Die Stipendiaten/Künstler sollen für einen bestimmten Zeitraum eine Residenz in einer dem Archiv zugehörigen Wohnung erhalten. Lecture Performances oder öffentliche Proben sollen einem interessierten Publikum gezeigt werden. Dokumentationen der entstandenen Arbeiten sollen eine wissenschaftliche Diskussion über Arbeitstechniken und Vorgehensweisen (Rehearsal Studies) anregen und den Grundstein zur Analyse von Probenprozessen liefern. Die Erfassung der Arbeit des KünstlerLabs wird zudem die Arbeit des Pina Bausch Archivs veranschaulichen und den Bestand des Archivs ergänzen. Das Pina Bausch Archiv richtet sich nicht nur an den Kreis von Experten und Professionellen, sondern versteht sich als ein Ort für Jedermann, als ein lebendiges Archiv, das sich aktiv einer Vielfalt von Publikumsgruppen öffnet. Ein Schwerpunkt wird die aktive Heranführung von Kindern und Jugendlichen an das Werk von Pina Bausch und den Tanz sein. Umgesetzt werden soll dieses u.a. durch die Zusammenarbeit mit Schulen und anderen Bildungseinrichtungen. Die Begegnung von unterschiedlichen Kulturen und sozialen Hintergründen soll besonders akzentuiert werden. Durch die architektonische Gestaltung und die Lage der Räumlichkeiten soll das Pina Bausch Archiv in die urbane Struktur des Standorts eingebunden werden. Es geht darum, ein lebendiges Archiv als einen Ort der Begegnung zu etablieren, den Menschen gerne aufsuchen, um zu lernen, zu forschen oder sich einfach zu treffen, z.B. in einer offenen Kantine. Auch ein Garten oder Außenbereich soll die Besucher zum Verweilen einladen.
Regelmäßige Workshops und Kurse sollen stattfinden – durchgeführt z.B. von ehemaligen Tänzern des Tanztheaters. Diese sollen sich an unterschiedliche Zielgruppen richten und sowohl ein nicht-professionelles Publikum (z.B. Senioren, Jugendliche) berücksichtigen, als auch Angebote für ein professionelles Publikum (Meisterklassen) bereit halten. Ein solches Programm ist als Bestandteil eines ‘verkörperten Archivs’ zu begreifen und könnte in enger Zusammenarbeit mit der Folkwang Universität durchgeführt werden. Auch Angebote anderer Disziplinen, z.B. aus dem Bereich Martial Arts, sollen das Leben des Archivs bereichern und den interdisziplinären Geist Pina Bauschs, wie er sich in ihren vier Festivals 1998, 2001, 2004 und 2008 manifestiert hat, aufgreifen. Ergänzt werden soll das Angebot durch die Vorführung von Filmen von und über Pina Bausch, von Videos der Aufführungen des Tanztheaters sowie durch Veranstaltungen und Vorträge. Ein lebendiges Archiv ist ein Ort, an dem man sich trifft, spricht, probiert, forscht, lebt und diskutiert. Kunst und Arbeit verbinden sich.
Aufgrund der zwischen Pina Bausch und Wuppertal gewachsenen Verbindung und der Nähe zum Tanztheater Wuppertal favorisiert die Pina Bausch Stiftung Wuppertal als Standort für das Archiv. Unter Federführung der Stiftung sollen die nötigen Rahmenbedingungen für eine Verwirklichung herausgearbeitet werden und die Realisierbarkeit am Standort Wuppertal diskutiert und gegebenenfalls forciert werden. Dennoch sind auch Alternativen zu prüfen. Bei der Wahl des Standorts ist die langfristige Finanzierung der Räumlichkeiten sicher zu stellen. Das Pina Bausch Archiv in Wuppertal wird auf den Standort positiv wirken und ein wertvoller Beitrag zur Bildungslandschaft sein. Insbesondere bieten sich für die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen neue Ansatzpunkte. Auch die Möglichkeiten für einen interkulturellen Austausch werden durch die weltweite Vernetzung des Archivs erweitert. Perspektivisch wird das Archiv als ein kreativer Motor den Strukturwandel der Region vorantreiben.
Weltweit vernetzt – durch internationale Botschafter und Kooperationen Paris – New York – Tokyo. Pina Bausch und ihre Stücke reisten durch die ganze Welt. Dies beeinflusste ihre Arbeit und die Zuschauer und den Tanz in den Ländern, die sie besuchte. Das Tanztheater Wuppertal führt diesen Weg fort. Im Herbst 2009 stand mit Kairo erstmals ein Besuch in einem arabischen Land auf dem Plan – mit sehr großem Erfolg. Das Pina Bausch Archiv will als Zentrum der weltweiten Auseinandersetzung auf das seit vielen Jahren gewachsene Netz an Partnern und Freunden in aller Welt aufbauen und es ausweiten. Mit der Zeit sollen Botschafter in den einzelnen Ländern etabliert werden. Sie sollen einerseits die Stiftung in ihren Ländern repräsentieren, andererseits aber auch der Stiftung als Ansprechpartner und Berater für ihr Land zur Verfügung stehen. Freundes- und Fördererkreise sollen gegründet werden. Durch dieses Netzwerk werden nationale und internationale Kooperationen angestoßen. Der Austausch von Ideen und kreativen Projekten (Ausstellungen, Workshops, Performances etc.) ist eine wertvolle Chance für die Stiftung und für den Erhalt des Werkes.
„Bis das Pina Bausch Archiv ein realer Ort sein wird, den Menschen aufsuchen können, wird es noch ein paar Jahre dauern. Im Vordergrund steht erst einmal die Erfassung und Sicherung des Werkes meiner Mutter, was nur durch die enge Zusammenarbeit mit dem Tanztheater Wuppertal realisiert werden kann. Und auch die aktive Weitergabe und Vermittlung ihrer Kunst an zukünftige Generationen, ist nur möglich mit der Unterstützung der Menschen, die ihre Stücke all die Jahre zuvor, bis heute, auf der Bühne haben lebendig werden lassen“, erklärt Salomon Bausch, Vorstand der Pina Bausch Stiftung.
 

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