Über die Schubladen hinweg tanzen

Sebnem Gülseker und Ibrahim Önal sind Solotänzer am Staatsballett, haben beide einen deutschen und einen türkischen Pass – und sind seit 15 Jahren ein Paar

Berlin, 11/11/2010

Pfützen, Sandhaufen, Presslufthammergedröhne. Das Operngebäude Unter den Linden ist eine Baustelle. Außer dem Staatsballett hat die gesamte Belegschaft längst das Weite gesucht. Nur die Tänzer trainieren noch, obwohl gelegentlich die Heizung ausfällt, Vögel durch offene Fenster ins Treppenhaus eindringen und die desolate Kantine auf Minimalbetrieb umgestellt hat. Es ist eine Atmosphäre wie in einem Marthaler-Stück, ein Opernhaus, das zum Geisterhaus geworden ist.

„Spirit”, Geist, heißt auch der Pas de deux, den Sebnem Gülseker gerade probt und der am Mittwoch bei der Gala „Malakhov and Friends” Premiere hat. Der Staatsballettindentant hat ihn höchstselbst für die zierliche Solotänzerin und ihren Lebenspartner Ibrahim Önal choreographiert – und eigentlich würde die junge Frau mit den ernsten dunklen Augen lieber darüber sprechen, als zum x-ten Mal Fragen zum Thema Herkunft und Integrationsdebatte zu beantworten. „Sobald die Leute hören, dass ich Türkin bin, denken sie sofort an Kopftücher. Dabei gibt es in der Türkei genauso Kultur wie hier. Es gibt dort zum Beispiel fünf große Ballettkompanien. Es wird immer so getan, als würde es da nur um Religion gehen.”

Trotz eines gewissen Ärgers antwortet Sebnem höflich und konzentriert auch auf die Fragen, die sich nicht auf ihren Beruf beziehen. Sie erzählt, wie schockiert ihre Freunde und Bekannten aus Istanbul reagieren, wenn sie sie durch Kreuzberg führt: „Für die ist das wie in Ostanatolien. Das können die gar nicht fassen. Außerdem finden sie es traurig, dass dort viele Leute weder richtig Deutsch noch richtig Türkisch sprechen.” Im Grunde fühlt sie sich von der aktuellen Diskussion nur wenig persönlich betroffen.

In Ankara geboren, kam sie im Alter von drei Jahren nach Deutschland und wuchs als Tochter eines Lehrerehepaars in Steglitz auf. Auf Betreiben ihrer Mutter nahm sie ab dem 7. Lebensjahr Ballettunterricht, ging dann nach München an die Bosl-Stiftung, später ans Stuttgarter Ballett und kehrte bei der der Gründung des Staatsballetts unter Vladimir Malakhov 2004 in ihre Heimatstadt Berlin zurück. Sebnem hat zwei Pässe, fühlt sich aber weder als Deutsche noch als Türkin, sondern vor allem als „Mensch”. Obwohl sie auf dem Papier Muslimin ist und nach eigener Aussage auch an Gott glaubt, sagt sie: „Wenn ich als Deutsche geboren wäre, wäre ich jetzt Christin, und das wäre genauso. Denn der Gott an den ich glaube, ist nicht von einer Religion abhängig. Das ist eher eine spirituelle Kraft.” Um eine gewisse Art von Spiritualität geht es auch in dem Pas de deux, den Malakhov für das Paar kreiert hat, das seit über 15 Jahren gemeinsam lebt und tanzt. Sebnem glaubt, dass der Intendant sie beide beobachtet hat, und in dem kleinen Stück das würdigt, was sie für ihn ausstrahlen.

In diesem Moment kommt Ibrahim dazu, setzt sich neben seine Partnerin und fragt ruhig und freundlich, ob wir das Gespräch auch auf Englisch weiterführen könnten. In seiner warmen unaufgeregten Art verstrahlt er eine verlässliche Kraft, wie ein Fels in der Brandung. Und die hat das Paar gerade auch nötig, denn die Belastung ist groß. Die Proben für die Gala, parallell dazu Aufführungen in der Deutschen Oper, im Schillertheater und in der Komischen Oper – ganz zu schweigen vom bevorstehenden Umzug der Kompanie im Januar. Außerdem beginnt in einer Woche bereits die Arbeit am neuen Repertoirestück „Esmeralda”.

Auch Ibrahim, der in der Türkei und später in Ungarn ausgebildet wurde, mittlerweile aber seit 15 Jahren in Deutschland lebt und tanzt, bekundet sein Desinteresse an der allgegenwärtigen Integrationsdebatte. In den wenigen Minuten, die noch bis zur Probe bleiben, möchten die beiden lieber über ihre Arbeit sprechen. Schließlich ist es das erste Mal, dass extra für sie beide ein Stück kreiert wird. Beide finden es sehr schön und erfüllend, zusammen zu tanzen, doch hat das Ganze auch seine Schattenseiten: „Wenn man sich so hunderprozentig versteht, weil man sich einfach so gut kennt, gibt manchmal der eine dem anderen die Schuld, wenn etwas nicht funktioniert. Denn man erwartet so viel voneinander. Aber ansonsten macht es sehr viel Spaß”, sagt Ibrahim. Sebnem ergänzt: „Dadurch, dass man sich so gut kennt, spürt man Sachen natürlich anders. Das hat Vor- und Nachteile. Es hat den Vorteil, dass man manche Dinge intensiver spüren oder bearbeiten kann. Aber es hat auch Nachteile. Zum Beispiel geht man miteinander noch viel direkter und erbarmungsloser um.”

Während viele Tänzer kaum Zeit für eine stabile Beziehung haben, nehmen sie seit 15 Jahren ihre Arbeit mit nach Hause. Beide haben gemeinsam einen langen Weg zurückgelegt. Von München, wo sie einander im Ballettsaal kennengelernt haben, über Stuttgart, bis schließlich ans Staatsballett. Die Frage, ob die Tatsache, dass Interpreten aus 27 Ländern im Ensemble beschäftigt sind, der Arbeit eine multikulturelle Note verleiht, verneinen sie: „Natürlich gibt es eine russische und eine französische Schule, die sich vom Training her unterscheiden. Aber ansonsten spielen Nationalitäten überhaupt keine Rolle. Es kommt auf die Persönlichkeiten, die Charaktere an.” Der klassische Tanz in seiner strengen Normiertheit geht eben über alle kulturellen Identitäten hinaus.

Unsere Gesprächszeit ist um. Beide müssen sich nun aufwärmen für die Probe im Ballettsaal, der wegen der Renovierung um ein Drittel geschrumpft ist. Während eben noch Elisa Carillo Cabrera und Mikhail Kaniskin einen russisch-mexikanischen Pas de deux zu Bizets „Carmen” beenden, begrüßen sie die anderen anwesenden Tänzer und bringen sich mit Dehnübungen und Sit-Ups in Schwung.
Als Sebnem und Ibrahim schließlich durch die knapp drei Minuten lange Choreografie gleiten, liegt eine merkwürdige Intensität im Raum. In einer sehr klaren, sehr erdverbundenen neoklassischen Bewegungssprache inszeniert „Spirit” die Begegnung zweier Seelenverwandter. Trotz komplizierter Armverschlingungen und akkrobatischer Hebefiguren liegt das Hauptgewicht nicht auf der Technik, sondern auf den beiden Charakteren. Ruhig, ernst und voll Respekt nähern sich die beiden einander an – und wenn kurz Sebnems Hand über Ibrahims Wange streicht und er mit einer leichten Berührung ihrer Schulter antwortet, zeugt dies von einer Intimität, die nicht inszeniert sein kann. Versunken tanzen diese „Spirits” auch über alle kulturellen Schubladen einfach hinweg.

 

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