„Konzepte der Tanzkultur“

„Wissen und Wege der Tanzforschung“ in der Reihe „Tanz Scripte“

München, 03/02/2011

Noch jede Kunst hat zu Reflexion und wissenschaftlicher Durchdringung gereizt – Ballett jedoch eher nur zu ästhetischer Betrachtung und historischer Aufarbeitung. Erst als „die Kunst der Bewegung“ in freie, auch grenzüberschreitende Formen ausbrach, wurde sie zum begehrten Objekt von Theorie und Wissenschaft. Die Tanzwissenschaft, zunächst lediglich schwächliches Anhängsel der Theaterwissenschaft, ist dabei, sich als starkes akademisches Fach an den Universitäten durchzusetzen – Berlin, Hamburg, Gießen, Köln, München, Salzburg und Bern sind die Vorreiter –, wodurch auch das begleitende Schrifttum einen sichtbaren Aufschwung nimmt. Im Zusammenhang mit dem Nachdiplomstudiengang „Tanzkultur“ der Universität Bern haben Margrit Bischof und Claudia Rosiny jetzt „Konzepte der Tanzkultur - Wissen und Wege der Tanzforschung“ in der Reihe „Tanz Scripte“ herausgegeben: vierzehn Essays, die sich vor allem an Studenten der Tanzwissenschaft richten. Der freie Tanz wird hier, entsprechend seiner vielfachen Ausrichtung und seiner immer intensiveren Grenzgang-Neigung, aus je ganz unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchtet.

Christoph Wulf, in der Anthropologie zu Hause, sieht im Tanz unter anderem eine körperlich-emotionale Ausübung, die Ordnung und Regelhaftigkeit herausbildet, auch Gemeinschaft fördert. Für ihn sind die „Praktiken des 'immateriellen' – nicht in Monumenten festgehaltenen – kulturellen Erbes und insbesondere die Tänze Möglichkeiten, sich gegenüber dem Fremden zu öffnen und Erfahrungen im Umgang mit kultureller Vielfalt zu machen.“

Tanzwissenschaftlerin Gabriele Brandstetter erklärt in ihrem Essay „Tanz Zeigen“ sehr klar die Entwicklung verschiedener Performanceformen, von der „Forschungs“-Performance eines Xavier LeRoy bis zur Lecture-Performance eines Jerôme Bel. Ersterer kombiniert seinen eigenen, von ihm selbst vorgetragenen Werdegang als Mikrobiologe, pathologisch-medizinische Einschübe inklusive, mit den von ihm spät gelernten Tanz-Trainingselementen. Der andere strukturiert/inszeniert die Lebensgeschichte eines Tänzers und lässt ihn abwechselnd Tanz-Szenen vorführen. Diese Mischform von „Sagen und Zeigen“ hat sich bekanntlich erfolgreich als Performance-Genre etabliert.

Die Sport- und Tanzsoziologin Gabriele Klein bringt in ihrem Beitrag „Tanz als Aufführung des Sozialen“ bekannte Choreographie-Beispiele, an denen sich soziale und Geschlechterordnungen ablesen lassen: die aus Standesgründen scheiternde Liebe zwischen dem einfachen Mädchen „Giselle“ und dem Adeligen Albrecht steht mittelbar für die bürgerliche Konvention im 19. Jahrhundert; Sasha Waltz' „Allee der Kosmonauten“ sind getanzte Bilder zum Plattenbau-Lebensstil im 20. Jahrhundert. Klein, die den wechselseitigen Bezug von Tanz und Gesellschaft durch die Jahrhunderte verfolgt, macht diesen Bezug besonders klar für den Absolutismus unter Louis XIV. Dem Tanz sei damals eine symbolische, gesellschaftsregulierende und machtdemonstrative Funktion zugekommen: „die... Choreographien waren so aufgebaut, dass die mittanzenden Höflinge den ihnen zugewiesenen sozialen Status am Hofe über ihre Rolle in den Balletten erfuhren und im Tanz einer höfischen Öffentlichkeit demonstrierten.“

Zu diesen anthropologischen und kultursoziologischen Betrachtungen gesellen sich Beiträge, die bildungstheoretische, ästhetische und methodische Zugänge zum Tanz erhellen. Das Buch deckt so gut wie alle tanztheoretischen Fragen und Phänomene ab, vom tanzenden Körper als kulturellem Gedächtnis, als lebendem Archiv (Gerald Sigmund), bis zu den Tanz-konservierenden Materialien Ikonographie, Literatur, Notation, Film und Video (Jeschke/Vettermann); von der Tanzpädagogik bis zu Produktionsbedingungen und Marktmechanismen. Ein kompaktes, wissenschaftlich nützliches Buch also, das man immer wieder zu Rate ziehen kann.

Eine kritische Anmerkung dennoch. Nach tanzwissenschaftlicher Manier wird, bei den einen Autoren mehr, bei den anderen weniger, Selbstverständliches bis in seine atomaren Teile zerlegt. Akademische Verfahrensweisen – gewiss. Aber sind sie wirklich nötig? Und beraubt sich die „Akademia“ nicht eines breiten Lesepublikums, das sehr wohl an Tanz interessiert ist, aber wenig Lust hat, sich mit verwissenschaftlichtem Insidervokabular herumzuquälen (Alterität, Materialität, Kulturalität, Performativität und und) und einer des Öfteren penetrant umständlich-schwerfälligen Darstellungsart. Beispiel bei Gabriele Brandstetter, Seite 51: „Aus der Thematisierung dieser Parallelisierung und Verschränkung von Diskurs und Körper-Performance präpariert er (Xavier LeRoy) freilich noch eine Pointe des Zeigens heraus, die über die Einbeziehung und Ausstellung des Subjektiven im Vortrag hinausweist.“. Muss Wissenschaft und gerade die der doch sinnlichen Tanzkunst dermaßen dröge sein? Das Traurige an diesem seminaristischen Nominalstil ist, dass er sich von Generation zu Generation vererbt. Denn nichts machen junge Menschen selbstverständlicher, als ihre Lehrer nachzuahmen.

„Konzepte der Tanzkultur – Wissen und Wege der Tanzforschung“, Hg. Margrit Bischof und Claudia Rosiny, transcript Verlag, 230 Seiten, 24,80 Euro

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