Alles neu – macht der Vulkan
Zur neuen Heidelberger Tanzpremiere „Bone Smoke“ von Melanie Lane im Zwinger
„Insight“ – eine neue Tanzproduktion made in Heidelberg, erstmals im Zwinger
Zum Anfang der Premiere müssen erst einmal Stühle gerückt werden. Die Bühne des Heidelberger Zwingers scheint fast zu klein für die bewegliche verspiegelte Wand, die Daniel Iser als Bühnenbild für die neue Tanzproduktion „Insight“ entworfen hat. Und wenn die acht höchst athletisch wirkendenden Tänzer der Dance Company Nanine Linning die Bühne füllen, wird es eng. Die leicht klaustrophobische Atmosphäre ist allerdings gewollt.
In der ersten Studio-Tanzproduktion der neuen Heidelberger Tanzsparte hat Senkrechtstarterin Nanine Linning die Verantwortung für die Choreografie weitergereicht – an ihre Trainingsleiterin Sandra Marín Garcia und an Zoran Markovic. Letzterer zeichnet für die Idee des Stücks verantwortlich, das auf zwei berühmte literarische Anti-Utopien des 20. Jahrhunderts Bezug nimmt: „Wir“ von Sewgenij Samjatin und „1984“ von George Orwell.
Die Choreografin hat den acht Akteuren weiße Unisex-Hosen, durchscheinende Oberteile und Halbröcke verpasst, die halb wie avantgardistische Fitness-Mode, halb wie eine Sekten-Uniform daherkommen. Zum abhackten Stakkato der elektronischen Komposition des jungen Ungarn Adam Ster ordnen die Tänzer gleich anfangs einen Abweichler handgreiflich in die Gruppendisziplin ein: Hier, im Lande der sichtbaren Unfreiheit, tanzt keiner aus der Reihe, ist für individuelle Befindlichkeiten kein Raum. Mit ihrer Bewegungssprache buchstabieren sich die beiden Choreografen durch alle sichtbaren Zeichen der Unfreiheit. Geduckt, gedrückt, am Vorwärtsdrang gehindert, mühsam eine absurde Balance wahrend, mühen sich die Darsteller um Synchronizität und rhythmisiert versetzte Abläufe. Das klappt nach kleinen Anfangs-Unebenheiten auch überzeugend, und so nimmt das gut einstündige Stück die Zuschauer mehr und mehr mit in ein imaginäres totalitäres System.
Nur ab und zu gibt es kleine Ausbruchsversuche, fast lautmalerisch skandiert von der Musik. Echte Spannung kommt erst auf, wenn ein Einzelner versucht, sozusagen aus der Reihe zu tanzen. Und sehr folgerichtig wird klar, dass es gar nicht um Widerstand oder gar Aufstand gegen das bestehende Regime gehen kann, sondern erst einmal um die Entdeckung und Behauptung eines eigenen „Ichs“. Hier kommt immer wieder die Spiegelwand ins Spiel, die Dank des raffinierten Lichteinsatzes changiert zwischen Reflektion des Spiegelbildes und Durchscheinen-Lassen von Traum- und Albtraumbildern.
Man hätte sich die gleichgeschaltete getanzte Welt, gemessen an den literarischen Vorlagen, durchaus schlimmer, weniger ästhetisch attraktiv und mehr geprägt durch die Willkür einer imaginären Obrigkeit vorstellen können. Aber die leisen Bilder, die diese Choreografie bereithält, sind nicht weniger eindrucksvoll. Die Ambivalenz der Sehnsucht nach und der Angst vor Nähe; die Unfähigkeit, eigene und fremde Gefühle wahrzunehmen und zuzulassen, finden am Ende überzeugend Ausdruck. Viel Beifall!
Der Beitrag ist ebenfalls in der Rhein-Neckar-Zeitung Heidelberg erschienen.
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