Ballettwelt im Umbruch
Ein pädagogisches Konzept für die Münchner Ballett-Akademie
Von Clea Albrecht
Überalterung, demografische Schrumpfung, Fachkräftemangel – Deutschland, das ist lange bekannt, braucht Zuwanderung. Menschen aus anderen Ländern und Kulturen sind eine Bereicherung: sie bringen neue Ideen, eine neue Energie ins Land. Im Bereich Tanz war das schon lange vor den aktuellen politischen Bekenntnissen der Fall. Tänzer und Choreografen, berufshalber spätestens seit dem 18. Jahrhundert Migranten (siehe den Tanzerneuerer Noverre, die berühmten italienischen Familien Vestris, Viganò und Taglioni), wählen oft eine der durchwanderten Städte als endgültiges Zuhause. Zu den tanzenden Wahl-Münchnern, die – wie die Flüchtlings- und Zuwanderungs-Demos der letzten Wochen es ja wünschen – die Stadt bunter machen, gehört auch David Russo: Tänzer, Choreograf, Pädagoge, Veranstalter und als Sohn eines in Frankreich geborenen und aufgewachsenen Italieners und einer Philippinin an sich schon ein spannend „buntes“ Gemisch.
„Meine Mutter ist mit dem Ziel auf bessere existenzielle Aussichten mit 18 nach Italien gegangen“, erzählt Russo. Aus ähnlichen Gründen brachen Russos sizilianische Ur-Großeltern auf nach Tunesien, das seit 1881 französisches Protektorat war. Nach der Unabhängigkeit 1956 kehrte die Familie über eine Station in Frankreich nach Italien zurück. Dieser offensichtlich von beiden Elternteilen geerbte Aufbruchsgeist und Durchsetzungswille haben Russo in seiner gesamten Laufbahn geholfen.
In seiner Geburtsstadt Cuneo im Piemont beginnt er mit neun Jahren im Turnverein, behauptet sich in der örtlichen Ballettschule „als einziger Junge“, steht ein Jahr hartes Solo-Privattraining mit einem Lehrer in Turin durch, anschließend die noch härtere Stuttgarter John Cranko Schule. „Ich hatte ja keine akademische Vorschulung wie die anderen Studenten“, erinnert er sich. „Man gab mir nur sechs Monate zum Aufholen. Aber ich wollte bleiben! Das Lehrsystem, die Sauberkeit – ich wusste: in Deutschland war mein Platz.“ Nach seinem Abschluss unter dem renommierten Waganowa-Pädagogen Pjotr A. Pestov tanzt er zwei Jahre in Birgit Scherzers Ensemble am Saarländischen Staatstheater in Saarbrücken. Dann sieht man ihn von 2000-2010 am Münchner Gärtnerplatztheater unter den zeitgenössischen Tanzchefs Philip Taylor und Hans-Henning Paar: einen kleinen Tänzer, exotische Gesichtszüge, drahtig, blitzschnelle Reflexe, hundert Prozent ein Allegro-Typ – der mit seiner Intensität, seiner Präsenz noch in heftig bewegter großer Gruppe auffällt.
Während der letzten zwei Jahre am Gärtnerplatztheater absolviert er, klug in die Zukunft planend, ein zweijähriges Pädagogikstudium an der Ballett-Akademie/Musikhochschule München und gehört ab September 2010 zu ihrem Lehrerstab. Stolz zeigt Russo ein Foto: „Das sind meine ‚Ballett-Buben‘. Eine eigene Klasse mit täglichem Unterricht zu haben, ist mir sehr wichtig. Da kann ich etwas aufbauen.“ Zeitgenössischen Tanz unterrichtet er in zwei Mittelstufe-Klassen und drei Bachelor-Studiengängen, kommt insgesamt pro Woche auf zweiundzwanzig Stunden plus die Lehrer-Meetings und die Proben für die Veranstaltungen. Für diese Auftritte erarbeitet der unruhig kreative Russo selbstredend regelmäßig Stücke: in zeitgenössisch freiem Stil, mit gutem Auge zugeschnitten auf das jeweilige Niveau der Schüler und Studenten. Man spürt dahinter, altmodisch formuliert, ein Herzensanliegen – das er an dieser Stelle ausspricht: „Nicht alle Studenten bringen die körperlichen Voraussetzungen für die Ballettklassik mit. Aber es gibt heute andere Möglichkeiten, sich zu verwirklichen. Ich bin ein gutes Beispiel dafür. Auch ohne ‚danseur-noble‘-Statur habe ich als Tänzer meinen Lebensunterhalt verdient. Und wenn ein Student seine Füße nicht in den für Ballett geforderten geschwungenen Spann zwingen kann, soll er trotzdem seine klassische Ausbildung bekommen dürfen. Sie ist auch für den modernen und den zeitgenössischen Tänzer die unerlässliche Basis. Ohne sie wäre ich heute nicht da, wo ich bin.“
Das stimmt sicher. Aber ohne seine Beharrlichkeit, seine erstaunliche Energie und seine Umtriebigkeit wohl auch nicht. 2012 wirbelt er im Münchner Theater der Jugend als Darsteller durch „Zoff in Chioggia“, Nuran Calis‘ Neufassung der Goldoni-Komödie. 2014 ist er beteiligt an dem politischen (Tanz-)Theaterstück „Brothers in Arms“ der Regisseurin Ana Zirner, die ihn auch für ihr heuer herauskommendes Projekt „Hiatus“ für vier Schauspieler und vier Tänzer wieder dabei hat. „Wenn ich nicht überfordert bin, versinke ich in Bequemlichkeit“, ist Russos Kommentar zu seinen vielen parallellaufenden Aktivitäten. Er war immer so.
Schon ab 2005, trotz Vollbeschäftigung am Gärtnerplatztheater, choreografiert er für das Ulmer Tanzensemble, für die Stiftung der Mannheimer Akademie- und Karlsruher Ballett-Direktorin Birgit Keil. 2006/07 kreiert er zweimal für das Ballet Philippines, eine junge 30-köpfige Kompanie, und engagiert sich als Gastlehrer in einer Stiftung der Stadt Manila zur kulturellen Förderung mittelloser Kinder und Jugendlicher. Und dann sind da noch seine Kirchen-Projekte: Bewegungs-Workshops für Erzieher und Seelsorger der Erzdiözese München Freising, „damit sie mit den Kindern an Bewegung arbeiten können“, und Choreo-Inszenierungen für die musikalischen Veranstaltungen der Pfarrei St. Ursula in Schwabing. „Ich möchte etwas bewirken, im Bewusstsein der Leute etwas verändern“, dieser Satz fällt mehrmals im Gespräch. Und er sieht, zumindest im Bereich der Akademie, kleine Fortschritte: „Bisher haben die Ballettstudenten den zeitgenössischen Tanz nicht wirklich wahrgenommen. Jetzt schauen sie sich doch schon mal neugierig unsere freien Produktionen an.“
Der jüngste zweiteilige Abend, „Ground(s)“ von 2013, jetzt im Januar im Münchner Schwere Reiter gezeigt, war eine Zusammenarbeit mit der bereits mehrfach ausgezeichneten und international tourenden Schweizer Künstlerin Jasmine Morand, mit der Russo seit 2005 kontinuierlich kooperiert. Unter dem Titel „Underground“ entwarf die bildnerisch interessierte Morand in einem großen halb transparenten Kubus eine „Highly Artificial Peepshow“ für zwei Tänzer. Den zweiten Teil des Abends „Playground“, ein intelligent gebautes, mit Licht und Sound durchrhythmisiertes Wettkampfstück für drei Männer, haben Morand und Russo gemeinsam erarbeitet. Er selbst, Manel Salas Palau und Fabio Bergmaschi waren die körperlich intensiven Interpreten. Russo, auch ein praktisch denkender Kopf, hat erkannt, dass ein zeitgenössischer Choreograf alleine kaum eine abendfüllende Choreografie stemmen kann. Zudem profitiert er bewusst von dem Ideenaustausch mit anderen. Und nicht zuletzt ist es ökonomischer, Licht- und Ton-Designer, Technik und die (Tournee-)Organisationkosten zu teilen.
Am 14. Februar bringt David Russo unter dem Titel „L_Overdose“ im Münchner i-camp wieder ein Gemeinschafts-Projekt heraus. Passend zum Valentinstag haben er, Jasmine Morand und das Ehepaar Pedro Dias und Rita Barao Soares – er Ex-, sie immer noch Solistin des Tanzensembles am Gärtnerplatztheater – Etüden über die Liebe choreografiert: Liebe mit ihren Machtspielen, Kämpfen und Kompromissen; Liebe im Alltag, die ihre Zeit zwischen Arbeit, Kind und Küche findet; Liebe bei 60plus, die jung geblieben ist. Russos Stück „Love Therapie“ wird auch in den beiden Ballettmatineen der Heinz-Bols-Stiftung am 19. und 26. April im Münchner Nationaltheater zu sehen sein.
Erstabdruck: Münchner Feuilleton Nr. 38
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