Lust und Last eines Impresarios der Belle Époque
Berenberg edierte Gabriel Astrucs Erinnerungsband „Meine Skandale“
Dies sind nun einmal brisante Informationen aus erster Hand! Kein noch so akribischer Tanzhistoriker hat sie säuberlich zusammenrecherchiert. Nein, ein im vollen Wortsinn betroffener Zeitzeuge hat sie niedergeschrieben, um sich von Chimären – bedrohlichen wie erheiternden –zu befreien und einer staunenden Nachwelt mitzuteilen, was einst im Mekka der Kunst geschehen ist: Ereignisse, die bis heute nachwirken. Beschrieben hat sie Gabriel Astruc, als Sohn einer wohlhabenden jüdischen Familie 1864 in Bordeaux geboren, zunächst Journalist etwa für den „Figaro“, dann Redakteur, Künstleragent und Organisator von Musikaufführungen. Seinen besonderen Platz im Pariser Kunstbetrieb nach 1900 fand er, als er, geschickt darin, adlige Sponsoren aufzutun, durch Vermittlung 1906 Sergej Djagilew kennenlernte, der damals eine Ausstellung russischer Kunst und im Jahr darauf Konzerte russischer Komponisten veranstaltete. Als beide, Astruc und Djagilew, auf Tanz zu sprechen kamen, entzündete sich in ihnen der Gedanke, auch die Crème des russischen Balletts in Paris zu präsentieren.
Mit einem Garantiekapital von hunderttausend Francs fand im angemieteten Théâtre du Châtelet am 17. Mai 1909 das denkwürdige erste Gastspiel der späteren Ballets Russes statt – vor erlauchtem Publikum: Marcel Proust etwa, Auguste Rodin, Odile Redon, Reynaldo Hahn und allerlei aristokratischer Klientel. Nach der sensationellen Aufnahme seitens der Zuschauer, schlossen sich mehrere weitere Pariser Saisons der Truppe um Djagilew an, viele unter Astrucs organisatorischer Verantwortung. Mutig geworden, verwirklichte er einen zehn Jahre gehegten Traum: Ende März 1913 eröffnete er einen eigenen Kunsttempel, das Théâtre des Champs-Élysées, das er nach dem Skandal um die Uraufführung von „Le Sacre du Printemps“ und dem nicht zuletzt auch damit verbundenen finanziellen Fiasko schon nach vier Monaten schließen musste. Bis zu seinem Tod 1938 arbeitete Astruc wieder als Journalist sowie Presseagent und blieb der Musik liebend verbunden.
Was er in den intensiven Jahren seiner Tätigkeit als Organisator erlebt hat, das schrieb er unter dem Titel „Meine Skandale“ nieder. Berenberg legt den schmalen Band jetzt in bester deutscher Übersetzung vor und macht hiermit ein bedeutendes Kapitel der Pariser Musikgeschichte lebendig. Dies umso mehr, als Astruc ein so begnadeter wie spitzzüngiger und ironisch pointierter Erzähler ist. Man mag den bibliophilen Band kaum aus der Hand legen, weil man darin in sieben kurzen Kapiteln etwas vom Leidwesen eines Impresarios erfährt, der mit Allüren seiner Künstler ebenso zu kämpfen hat wie mit der Ignoranz einer konservativen Abonnentenschaft. Welche Schlachten sich Verfechter einer modernen Richtung, rigide Traditionalisten und verschrobene Snobisten damals lieferten, in einer Ära, als das Theater noch gesellschaftlicher Brennpunkt war, liest sich heute amüsant, dürfte für die gebeutelten Künstler aber alles andere als erheiternd gewesen sein.
Da ist der Eklat um die Pariser Premiere der „Salome“ des ansonsten vergötterten Richard Strauss: Zum einen brüskierte der Kuss auf ein abgeschlagenes Haupt, zum anderen beanspruchte auch das Tänzerin-Double für den Tanz der Sieben Schleier der Titelheldin ihre Verbeugung an der Hand des ungehaltenen Meisters. Da ist das kirchliche Interdikt gegen „Das Martyrium des Heiligen Sebastian“ des exaltierten italienischen Textdichters Gabriele D'Annunzio und seines scheuen Komponisten Claude Debussy. Hochspannend für den Tanz lesen sich die beiden Kapitel zu Vaslav Nijinsky: seinen wegweisenden Choreografien „Prélude à l'après-midi d'un faune“ und „Sacre du Printemps“.
Was heute hinlänglich aufgearbeitet ist, wird in Astrucs prononcierter Schilderung als unmittelbarer und am Ende bankrottgegangener Zeitzeuge erregend authentisch. Wie viele Geister erster Garde sich in den teils handgreiflich geführten Diskurs eingeschaltet haben, verteidigend meist, doch auch ablehnend, macht den Umbruch in den Künsten jener Jahre kurz vor dem ersten großen Krieg deutlich. Was Astruc wider die Kritiker seiner aktivsten Ära und ebenso wider ein borniertes Nobelpublikum anzuführen hat, klingt teils so aktuell, als sei es einer heutigen Feder entflossen. Das schlägt eine unvermutete Brücke zwischen verblichener und gegenwärtiger Kunstpraxis.
Gabriel Astruc: „Meine Skandale. Strauss, Debussy, Strawinsky“. 128 S., 35 teils farbige Abb., Halbleinen, Berenberg Verlag 2015, 22 Euro, ISBN 978-3-937834-84-9
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