Mit weit aufgerissenem Mund steht Keren Levi da. Das Gesicht ist verzerrt, wird immer wieder geschüttelt von Tränen. Dieser stumme Schrei ist unglaublich eindringlich und bewegend, ein Bild, das sich einprägt. Begleitet wird es von einem auf Hebräisch singenden Chor mit episch anmutender Musik, was dieser Szene eine besondere Dramatik und Intensität verleiht und Bilder von Raketen über Israel ins Gedächtnis ruft.
Das Duo Niv Sheinfeld & Oren Laor aus Israel entwickelte die Performance "Big Mouth" bereits vor zwölf Jahren, 2009, in Kollaboration mit Keren Levi. Nun zeigen sie sie erneut beim DANCE Festival in München. Vor dem Hintergrund der momentanen Unruhen in Israel und Gaza, die einen gefühlt schon immer vorhandenen Konflikt wieder aufkochen lassen, lässt sich das Stück mit einem neuen Gefühl ansehen. Das Wissen, dass die beiden Künstler erst letzte Woche für das Festival nach Deutschland gekommen sind und nun aus der Ferne mitbekommen, was in ihrer Heimat passiert, hängt den gesamten Abend in der Luft.
Es geht um Selbstentfaltung und das Verlangen nach einem Ausbrechen aus festen Strukturen, um Bewegungslust und um die Kraft von Einheit und kollektivem Marschieren. So beginnt es auch: die drei Performer*innen durchschreiten im Gleichschritt den Raum, bewegen sich entlang der Seiten der Bühne von einer Ecke in die nächste, wechseln abrupt und synchron die Richtung. Ihre Arme schwingen ebenfalls im absoluten Gleichklang. Auch wenn das Ganze nicht militärisch wirkt - dafür sind ihre Bewegungen zu federnd – erinnert es daran, dass es in Israel eine Wehrpflicht gibt, für Männer und für Frauen, was das Kollektivverständnis im Land stärken soll.
Dieses Marschieren wird jedoch immer wieder unterbrochen von kleinen Hüpfern oder Drehungen, alles ebenfalls in Synchronität. Aus dem Marsch sind Volkstanzschritte geworden. Während sie immer weiterlaufen, schert Keren Levi ab und zu aus der Formation aus. Sie variiert die Bewegungen, bleibt kurz zurück, um sich dann wieder einzufinden. Die beiden Männer sehen ihr dabei zu. Sie bricht heraus aus dieser Einheit und gibt sich völlig ihrer Bewegungslust hin. Wie eine Metapher ist es, als sie genau in die entgegengesetzte Richtung der zwei anderen läuft und ihnen ausweichen muss – immer gegen den Strom.
Ihr stummer Schrei wirkt dann wie eine Befreiung. Sie scheint ihren Frust und ihre Verzweiflung in die Welt hinauszuschreien, während die anderen sie im Hintergrund dabei beobachten. Raus aus der Einheit, raus aus dem System, dem Drang nach individueller Freiheit nachgeben – all das verkörpert Levi mit beeindruckender Intensität. Es tut ein bisschen weh, dabei zuzusehen, wie sie versucht, die beiden Männer mitzureißen, aber es nicht schafft. Sie verausgabt sich und wird dabei nur in gewissem Abstand beäugt. Am Ende verlässt sie alleine den Saal.
Es gibt Momente, da sind sie sich alle wieder ganz nah. Sie stützen sich, umarmen und halten einander. Sie bewegen sich von einer Formation in die nächste, ohne dass Levi dabei den Boden berührt. Die beiden Performer übergeben sie sich gegenseitig, tragen sie, dienen ihr als Sitz und heben sie in die Luft. Eine Einheit ist nicht nur Zwang und Einschränkung, sondern auch eine Stütze.
Die gesamte Performance kann als ein Abbild der israelischen Gesellschaft gesehen werden. Sie funktioniert als feste Struktur, in der kleine Ausbrüche zwar toleriert, aber nicht unterstützt werden und das auch nur so lange, bis das auf Abwege geratene Individuum sich wieder ins System einfügt. Das Kollektiv wird großgeschrieben und alle scheinen im Einklang zu leben. Was jetzt gerade wieder in dem Land passiert, zeigt, wie ambivalent die Gesellschaft doch ist. Auch wenn die Performance schon vor zwölf Jahren entwickelt wurde, hat sie nichts von ihrer Aktualität verloren. Vielmehr scheint sie gerade aktueller denn je, zumindest für alle, die nur von außen auf Israel blicken und schnell vergessen, dass dieses Land nie frei war von Konflikten.
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