Der Choreograf Ricardo de Paula
Der Choreograf Ricardo de Paula

Die Weißen mit unseren Gefühlen konfrontieren

Ein Gespräch vor der Berliner Premiere von „Ubiquitous Assimilation“ der Grupo Oito

Auf den Straßen von Belo Horizonte hat Ricardo de Paula angefangen zu tanzen: Disco Dance, Capoeira. Weil die Mädchen zum Ballett gegangen sind, hat sich auch er 1987, mit 17, in einer solchen Schule angemeldet: als einziger Schwarzer.

Berlin, 24/08/2021

Wo lange Jahre Berlins Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ ihr Domizil hatte, ist inzwischen ein Probenzentrum mit vielen preiswert mietbaren Räumen entstanden. Auch Ricardo de Paula bereitet dort gerade seine aktuelle Produktion vor. In einer Pause gibt er bereitwillig Auskunft über seine Karriere. Auf den Straßen von Belo Horizonte, einer Zweieinhalb-Millionen-Stadt in Brasiliens Südosten, habe er angefangen zu tanzen: Disco Dance, Capoeira. Und weil die Mädchen zum Ballett gegangen sind, schmunzelt er, habe auch er sich 1987, mit 17, in einer solchen Schule angemeldet: als einziger Schwarzer. In anderen Studios lernte er Jazz, Modern, Kontaktimprovisation, Floor Techniques. Gefragt, ob er als Schwarzer gegen Vorurteile anzukämpfen hatte, sagt er: „Sie sind Teil der Kultur in Brasilien.“ Und: „Ich hatte viel Glück, meinen Weg zu gehen.“

Nach der Ausbildung tanzte er 1992 bei Grupo Corpo vor, der führenden Kompanie des Landes und Brasiliens internationalem Aushängeschild. „Die Audition war als bloßes Experiment gedacht, die Aufnahme bedeutete eine Herausforderung“, erinnert er sich. Zehn Jahre, bis 2002, blieb er, absolvierte mit der Gruppe Gastspiele in die USA und nach Europa. Von Choreograf Rodrigo Pederneiras, „ein kleines Genie“, lernte er, was eine Tanzkompanie braucht: Musikalität, physischen Einsatz, Dramaturgie, Licht, Szenario: „Hier wurde ich zum Künstler.“

Was er überdies als Erfahrung mitgebracht hat, klingt bitter: „Dass es nirgendwo auf der Welt einen Platz für Schwarze gibt, Diskriminierung ist die Norm.“ Dies war auch der Grund, weshalb er die Gruppe verließ. Eine der Choreografien eignete sich zwar schwarze Kultur an, „benutzte sie, sprach aber nicht unsere Stimme“. Als auch noch in einer Zeitung unter seinem Foto „object of desire“ stand, quittierte er den Dienst. Es folgten Stationen in Europa.

Von Anna Mondini erhielt er eine Einladung an das Theater Kassel mit seiner zeitgenössischen Kompanie, Operette jedoch wollte er nicht tanzen. So ging er 2004 nach Berlin und war als Gast an verschiedenen Projekten beteiligt, bei Sasha Waltz („eine ganz andere Ästhetik als bei Grupo Corpo“), Constanza Macras, Christoph Winkler („mit viel Text“), Felix Ruckert („eher Konzeptkunst“) und bei der Südkoreanerin Eun Me Ahn – ein Ritt durch diverse tänzerische Stile und künstlerische Auffassungen. Besonders Felix Ruckert empfand er als provokant, „man musste herausfinden, warum man was tut“.

Dann tat er den vielleicht folgerichtigen Schritt, eine eigene Gruppe zu bilden. Das war 2006, ihr Name lautet Grupo Oito, Gruppe Acht. Eine liegende Acht ist das Signet, verstanden als das mathematische Zeichen für „unendlich“. „Ich höre erst auf zu tanzen, wenn ich sterbe“, erklärt er, „und auch das Leben ist schließlich ein ständiges Auf und Ab von Bewegung.“ Die Idee einer eigenen Kompanie entstand bereits in Brüssel, wo er offene Klassen gab, seine eigene Trainingsmethode entwickelte – und Mitstreiter fand: Sie wurden der Kern von Grupo Oito. „Get Physical Process“ war ihr erster Name, benannt nach jener Form von Körperarbeit, in die Capoeira ebenso einfließt wie Floor Techniques und das, was er als Tänzer mitgenommen hat, von Grupo Corpo, Ballett, Body Mind Centering, Jazz, zeitgenössischem Tanz, viel Berührung, wie er das von Felix Ruckert kennt: „it became a nice cake“, lacht er.

„Mein Tanz ist politisch“, beschreibt er den Ansatz für seine Stücke, „ich reflektiere, womit ich konfrontiert bin, ich habe keinen anderen Weg, mich auszudrücken, als kritisch zu ein.“ Ein Zitat des auf Martinique geborenen schwarzen Psychiaters, Politikers und Schriftstellers Frantz Fanon drückt Ricardo de Paulas eigene Haltung besonders gut aus: „O my body, always make me a man who questions!“ Die gesellschaftliche Realität überall auf der Welt empfindet de Paula als schlimm: „Es gibt Gewalt gegen Schwarze nur ihrer Hautfarbe wegen, nicht alles geht für uns, und diesem Zustand möchte ich eine Stimme geben.“ Europas Vergangenheit als Kolonialmacht sei nicht die beste, er möchte zu einer Dekolonisation beitragen. Entsprechend zielgerichtet und direkt sind Ricardo de Paulas rund zehn bisherige Stücke. So fragte er etwa in „Sight“, wie dem weltweiten Phänomen wachsender Müllberge beizukommen sei. Ausgangspunkt dafür war die reale Geschichte von Estamira, einer Frau, die über 20 Jahre in der Müllstadt nahe Rio de Janeiro gelebt hat. „Dance for Sale“ thematisierte die Verkäuflichkeit von Tanz und hatte sich an einer zugesagten finanziellen Zuwendung für ein Projekt entzündet, die eine Haushaltssperre zunichte machte, während der Senat mit gewaltigem Aufwand das Haus der Berliner Festpiele sanierte. Tanz nur noch gegen Geld: die Zuschauer*innen erhielten Spielzeugdollar und mussten überlegen, für welche Darbietung sie die ausgeben wollten. Entsprechend durften sie an vielen kleinen, teils bissigen, teils amüsanten Aktionen teilnehmen. Eine weitere Produktion, „Part of You“, orientierte sich am Problem der gesellschaftlichen Überwachung über Kameras oder Geheimdienste und wie bereitwillig wir ihnen durch Nutzung von Smartphone, Laptop und kommunikativen Internetplattformen zuarbeiten.

„Ubiquitous Assimilation“ heißt das aktuelle Projekt von Grupo Oito, das im Lichthof des Martin-Gropius-Baus, eines Museums mit zumeist mehreren zeitgleichen Ausstellungen, seine Premiere erleben wird. Das Stück setzt sich mit den rassistischen Strukturen unserer Gesellschaft auseinander, will uns unsere Norm zeigen, und die ist eine weiße Perspektive auf Historie und Kunst. Die Körper der fünf weißen Performer*innen sollen diese Perspektive dekonstruieren und uns auffordern, jene Norm zu verlassen. Das ereignet sich in einer Art Aquarium: Transparente Plastikfolien um eine Staffelung von Podesten geben den Blick auf nackte Körper frei und dämpfen ihn gleichsam ins Verschwimmende. Der Abend beginnt mit einer Videoinstallation, die nahtlos in die Performance übergeht.

Vorausgegangen war dem „CLEANSE“, erzählt Ricardo de Paula, „ein Stück mit sechs nackten schwarzen Tänzer*innen, die über unseren Stolz, unseren Glauben, die Kraft in uns und unsere Spiritualität berichten und ein Bild vom schwarzen Tänzer schaffen“. Dann kam die Schließperiode, das Stück konnte nicht gezeigt werden, und so entstand eine Dokumentation über das Stück. Ricardo de Paulas Wunsch für die Zukunft ist es, beide Stücke an einem Abend zu zeigen, um auf den latenten Rassismus in der Gesellschaft aufmerksam zu machen. Er sei Teil der europäischen Geschichte, „Kapitalismus und Rassismus gehören zusammen“, sinniert er. „Wir müssen die Weißen mit unseren Gefühlen und Erlebnissen konfrontieren“, schließt er nachdrücklich – und wirkt dabei zutiefst versöhnlich.
 

 

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