„Geprägt haben mich Begegnungen“
Die brasilianische Choreographin Lia Rodrigues wurde mit dem „Kunst- und Kulturpreis der deutschen Katholiken 2021“ ausgezeichnet
Solingen, 28/09/2021
Als sich die Festgemeinde am 28. September 2021 im Pina-Bausch-Saal des Theater- und Konzerthauses Solingen von den Stühlen erhob und Lia Rodrigues mit minutenlangem Beifall geradezu überschüttete, wusste die schmale, drahtige Frau gar nicht, wo sie hinschauen sollte. „Ich habe noch nie so oft meinen Namen gehört“, sagte sie lachend. Dass ausgerechnet ihr im fernen Rio de Janeiro dieser Preis zuerkannt wurde, sie die erste Tänzerin/Choreografin überhaupt ist, die ihn bekommt, das konnte sie nicht fassen. Sie wurde für ihr Werk „unter besonderer Würdigung ihres künstlerischen, pädagogischen und sozialen Wirkens in und mit der Favela Mare in Rio de Janeiro“ ausgezeichnet. In der europäischen Tanzszene ist Lia Rodrigues keine Unbekannte, aber mit der Katholischen Kirche hat sie wenig zu tun.
Katholische Kirche und Tanz? Das liegt auch nicht auf der Hand, wie Bischof Dr. Georg Bätzing freimütig einräumte: „Ja, für viele scheinen Kirche und professioneller Tanz zwei Planeten in unterschiedlichen Sonnensystemen zu sein... Denn der Tanz lebt ja aus purer Unmittelbarkeit und aus innigster Nähe zum Ureigenen, das heißt zur Leiblichkeit jedes Menschen. Und genau damit kam die Kirche mit ihrem damals vielfach desintegrierten Verständnis menschlicher Leiblichkeit nicht klar.“ Nur „damals“ bei den frühen Kirchenvätern? Wollten die Verantwortlichen, die gerne der Empfehlung der Jury unter Vorsitz der Tanzwissenschaftlerin Prof. Dr. Gabriele Brandstetter gefolgt sind, ein Zeichen setzen? Bätzing jedenfalls wünscht sich eine Rehabilitierung des Tanzes im kirchlichen Kontext.
Der Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken Prof. Dr. Thomas Sternberg ging noch einen Schritt weiter: „Der Tanz in seinen vielen Ausdrucksweisen hat viel mit Liturgie zu tun, wie wir sie in unseren Kirchen in unterschiedlicher Komplexität vollziehen. Es geht um die Bewegung, um Personen- Arrangements im Raum, um Ortswechsel, Schreiten, Knien, Stehen, gar am Boden liegen, darum, das Knie zu beugen, die Hände zu falten oder zu erheben. Manchmal täte es unseren liturgisch Beteiligten gut, sich die Bedeutung der Gestaltung solcher Performances deutlicher zu machen.“
Ob die Jury diese Perspektive eingenommen hat? Sie hat auf jeden Fall eine Frau gewürdigt, die auf 40 Jahre Arbeit als Tänzerin, Choreografin und Aktivistin zurückschauen kann: „Ihre Stücke sind in all ihrer engagierten Widerständigkeit niemals vordergründig politisch im Sinn von Agitprop. Vielmehr bewirkt gerade die Verbindung von intensivstem humanitärem und ethischem Einsatz und höchstem künstlerischen Anspruch in der kompromisslosen Ästhetik ihrer Tanzstücke einen Appell an die Welt zum Einhalt und zur Resistenz gegen Gewalt, Ausbeutung und Zerstörung.“ Lia Rodrigues hatte nicht gezögert, persönlich zu erscheinen, 14 Flugstunden hinter sich zu bringen, um allen zu danken. Aber vielleicht spielte auch Solingen eine Rolle? Die Stadt aus der Pina Bausch stammte, der Rodrigues – wie sie sagte – viel zu verdanken hat. Eine prägende Begegnung. Ruth Amarante, brasilianische Tänzerin vom Tanztheater Pina Bausch, „gratulierte“ tanzend, und nach dieser besonderen Hommage sprang Lia Rodrigues auf, kletterte über die Stühle, sprang auf die Bühne und fiel ihr um den Hals.
Pina Bausch, natürlich ließ es sich der Solinger Oberbürgermeister nicht nehmen, ausführlich über die berühmteste Tochter der Stadt zu sprechen. Aber die katholischen Würdenträger ließ er auch nicht aus, konnte sich eine Spitze gegen das Erzbistum Köln nicht verkneifen. Bätzing nahm es gelassen. Ihn sprach der Intendant der Deutschen Welle Peter Limbourg (der sich als Tanzmuffel outete) in seiner Laudatio auf die Preisträgerin direkt an: „Es ist ja großartig, dass Sie, lieber Herr Bischof, heute einer mutigen, inspirierenden Frau diesen bedeutenden Preis verleihen. Aber ist es nicht jetzt auch an der Zeit, Frauen in der Kirche gleiche Rechte zu geben und sie zu Weiheämtern zuzulassen? Ich bin fest davon überzeugt: Eine Organisation, die nicht divers ist, wird scheitern. Wer im 21. Jahrhundert die Hälfte der Bevölkerung von Führungsämtern ausschließt, darf sich nicht wundern, wenn sich die Menschen in Scharen abwenden.“ Das saß und wurde laut und deutlich beklatscht. Der Unmut über die katholische Kirche machte auch vor dieser Preisverleihung nicht Halt.
Aber der Laudator wusste natürlich zwischen der Institution Kirche und dem Christentum zu unterscheiden: „Lia Rodrigues bewegt sich in einer Tradition, die auch eine Tradition des Christentums ist: Gewaltfrei Widerstand zu leisten gegen Unterdrückung, gegen Diskriminierung und Ausgrenzung. Es gibt ein Stück von Lia Rodrigues mit dem Titel „Furia“, Wut. Entstanden ist es im zeitlichen Kontext der Wahl Bolsonaros zum brasilianischen Staatspräsidenten. Seine Regierung bekämpfe „all die Werte, die wichtig sind für eine demokratische Gesellschaft“, sagt sie.“ Für Lia Rodrigues ist Hoffnung der Sinn dieses Preises. Reines Glück ist das Preisgeld von 25.000 Euro, denn das von ihr gegründete „Centro de Artes de Mare“ in einer der größten Favelas in Rio de Janeiro ist zurzeit ein Lebensmittellager. Corona hat die Armen besonders hart getroffen, und sie unterstützt mit ihren Mitstreitern 17.000 Familien. Welche Kraft in dieser so entwaffnend ehrlichen Frau steckt. Sie eroberte an diesem Abend die Herzen aller. Das Angebot von Bischof Bätzing, der „zu einer neuen Nachbarschaft“ eingeladen hat, sich Foren wünscht, „wo sich Kirche, Theologie und professionelle Tanzkünste begegnen und inspirieren können.“, wird sie vorerst nicht annehmen können. Lia Rodrigues ist schon wieder zuhause und arbeitet an einem neuen Stück.
Katholische Kirche und Tanz? Das liegt auch nicht auf der Hand, wie Bischof Dr. Georg Bätzing freimütig einräumte: „Ja, für viele scheinen Kirche und professioneller Tanz zwei Planeten in unterschiedlichen Sonnensystemen zu sein... Denn der Tanz lebt ja aus purer Unmittelbarkeit und aus innigster Nähe zum Ureigenen, das heißt zur Leiblichkeit jedes Menschen. Und genau damit kam die Kirche mit ihrem damals vielfach desintegrierten Verständnis menschlicher Leiblichkeit nicht klar.“ Nur „damals“ bei den frühen Kirchenvätern? Wollten die Verantwortlichen, die gerne der Empfehlung der Jury unter Vorsitz der Tanzwissenschaftlerin Prof. Dr. Gabriele Brandstetter gefolgt sind, ein Zeichen setzen? Bätzing jedenfalls wünscht sich eine Rehabilitierung des Tanzes im kirchlichen Kontext.
Der Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken Prof. Dr. Thomas Sternberg ging noch einen Schritt weiter: „Der Tanz in seinen vielen Ausdrucksweisen hat viel mit Liturgie zu tun, wie wir sie in unseren Kirchen in unterschiedlicher Komplexität vollziehen. Es geht um die Bewegung, um Personen- Arrangements im Raum, um Ortswechsel, Schreiten, Knien, Stehen, gar am Boden liegen, darum, das Knie zu beugen, die Hände zu falten oder zu erheben. Manchmal täte es unseren liturgisch Beteiligten gut, sich die Bedeutung der Gestaltung solcher Performances deutlicher zu machen.“
Ob die Jury diese Perspektive eingenommen hat? Sie hat auf jeden Fall eine Frau gewürdigt, die auf 40 Jahre Arbeit als Tänzerin, Choreografin und Aktivistin zurückschauen kann: „Ihre Stücke sind in all ihrer engagierten Widerständigkeit niemals vordergründig politisch im Sinn von Agitprop. Vielmehr bewirkt gerade die Verbindung von intensivstem humanitärem und ethischem Einsatz und höchstem künstlerischen Anspruch in der kompromisslosen Ästhetik ihrer Tanzstücke einen Appell an die Welt zum Einhalt und zur Resistenz gegen Gewalt, Ausbeutung und Zerstörung.“ Lia Rodrigues hatte nicht gezögert, persönlich zu erscheinen, 14 Flugstunden hinter sich zu bringen, um allen zu danken. Aber vielleicht spielte auch Solingen eine Rolle? Die Stadt aus der Pina Bausch stammte, der Rodrigues – wie sie sagte – viel zu verdanken hat. Eine prägende Begegnung. Ruth Amarante, brasilianische Tänzerin vom Tanztheater Pina Bausch, „gratulierte“ tanzend, und nach dieser besonderen Hommage sprang Lia Rodrigues auf, kletterte über die Stühle, sprang auf die Bühne und fiel ihr um den Hals.
Pina Bausch, natürlich ließ es sich der Solinger Oberbürgermeister nicht nehmen, ausführlich über die berühmteste Tochter der Stadt zu sprechen. Aber die katholischen Würdenträger ließ er auch nicht aus, konnte sich eine Spitze gegen das Erzbistum Köln nicht verkneifen. Bätzing nahm es gelassen. Ihn sprach der Intendant der Deutschen Welle Peter Limbourg (der sich als Tanzmuffel outete) in seiner Laudatio auf die Preisträgerin direkt an: „Es ist ja großartig, dass Sie, lieber Herr Bischof, heute einer mutigen, inspirierenden Frau diesen bedeutenden Preis verleihen. Aber ist es nicht jetzt auch an der Zeit, Frauen in der Kirche gleiche Rechte zu geben und sie zu Weiheämtern zuzulassen? Ich bin fest davon überzeugt: Eine Organisation, die nicht divers ist, wird scheitern. Wer im 21. Jahrhundert die Hälfte der Bevölkerung von Führungsämtern ausschließt, darf sich nicht wundern, wenn sich die Menschen in Scharen abwenden.“ Das saß und wurde laut und deutlich beklatscht. Der Unmut über die katholische Kirche machte auch vor dieser Preisverleihung nicht Halt.
Aber der Laudator wusste natürlich zwischen der Institution Kirche und dem Christentum zu unterscheiden: „Lia Rodrigues bewegt sich in einer Tradition, die auch eine Tradition des Christentums ist: Gewaltfrei Widerstand zu leisten gegen Unterdrückung, gegen Diskriminierung und Ausgrenzung. Es gibt ein Stück von Lia Rodrigues mit dem Titel „Furia“, Wut. Entstanden ist es im zeitlichen Kontext der Wahl Bolsonaros zum brasilianischen Staatspräsidenten. Seine Regierung bekämpfe „all die Werte, die wichtig sind für eine demokratische Gesellschaft“, sagt sie.“ Für Lia Rodrigues ist Hoffnung der Sinn dieses Preises. Reines Glück ist das Preisgeld von 25.000 Euro, denn das von ihr gegründete „Centro de Artes de Mare“ in einer der größten Favelas in Rio de Janeiro ist zurzeit ein Lebensmittellager. Corona hat die Armen besonders hart getroffen, und sie unterstützt mit ihren Mitstreitern 17.000 Familien. Welche Kraft in dieser so entwaffnend ehrlichen Frau steckt. Sie eroberte an diesem Abend die Herzen aller. Das Angebot von Bischof Bätzing, der „zu einer neuen Nachbarschaft“ eingeladen hat, sich Foren wünscht, „wo sich Kirche, Theologie und professionelle Tanzkünste begegnen und inspirieren können.“, wird sie vorerst nicht annehmen können. Lia Rodrigues ist schon wieder zuhause und arbeitet an einem neuen Stück.
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