Klischeefreier Tanz von sich steigerndem Furor
Ivan Alboresis mitreißende „Carmen“ in Nordhausen
Nordhausen, 02/11/2021
Seit nunmehr 146 Jahren hält sie die Kunstwelt in Atem, kurz erst aus Empörung über die un-geschönt direkten Liebeshändel einer Personnage der unteren Klassen, seither aus Begeisterung über einen zupackend feurigen Klangkosmos. „Carmen“ hat kein Ende, ob in Oper, Film oder Ballett. Nun fährt sie als Sturm über die Bühne des Theaters Nordhausen. Dort hat ihr Ballettdi-rektor Ivan Alboresi gewissermaßen eine Frischzellenkur verpasst. Der Bizet-Kompilation von Rodion Schtschedrin, die nach ihrer Uraufführung 1967 in Moskau die internationalen Bühnen erobert hat, untermischt er Kompositionen der US-Amerikanerin Julia Wolfe, längt so den Abend auf zwei Stunden – und hat die ideale Tonuntermalung für die inneren Vorgänge hauptsächlich seines Protagonisten José. Um ihn fast mehr als um die Titelgestalt kreist das Geschehen und nimmt auch Nebenstränge aus der literarischen Vorlage von Prosper Merimée aus dem Jahr 1845 auf, ohne auf eine eigene Lesart des Stoffes zu verzichten.
Alboresi rahmt seine Inszenierung mit dem Blick auf einen aufgewühlten José, der als Mehrfach-mörder im Gefängnis seine Hinrichtung erwartet. Stets an seiner Seite ist personifiziert der Tod, blond, dominant, in schwarzem, rotgeädertem Mantel mit langer Schleppe, die immer wieder über José, später auch über die todgeweihte Carmen hinweg streift. Wolfgang Kurima Rauschnings Bühnenbild bleibt durchgängig abstrakt und vermeidet die Arena-Anmutung der Moskauer Uraufführung. Lediglich einen Stierkopf als Symbol unentrinnbar frühen Sterbens drängt der Tod seinen Auserwählten mehrfach auf. Zwei gewaltige Hörner im Hintergrund sind drohend bewegliche Requisiten. Rückblickend durchlebt José nach einem rasanten Qual-Solo nochmals die Stationen seines Leidensweges.
Der beginnt, als er nach einem Streit unter Arbeiterinnen jene verhaften muss, die, von den Frauen provoziert, ein Messer gezückt hat. Carmen weiß ihre Reize dienlich einzusetzen und José seine Dienstpflicht vergessen zu lassen. Lange wehrt er sich gegen das auftobende Gefühl, bis es ihn verhängnisvoll überrollt: Den um Carmens Liebe konkurrierenden Leutnant ersticht er, den Banditen Garcia, Carmens Langzeitaffäre, erwürgt er, ehe auch die Ungebärdige dieses Schicksal ereilt. Der Tod hat seine Arbeit getan, hindert im Schlussbild indes den verzweifelten José daran, gegen sich selbst das lebensraubende Messer zu richten.
Ivan Alboresi dehnt die Story durch zahlreiche tänzerische Monologe, die namentlich Josés inneres Befinden nach außen kehren. Julia Wolfes spätminimalistisch verharrende Streicherpassagen, flirrend, drängend, bisweilen nervös flatternd, oft mit gehaltenem Dauerton, bieten die notwendigen Zäsuren in Bizets melodisch-furiosen Klangvorgaben. Die Choreografie verzichtet auf eine äußerlich dramatische Erzählweise, setzt überwiegend auf den Einsatz rein tänzerischer Mittel und findet so zu einem beinah sinfonischen Erzählgestus. Genau das unterscheidet Alboresis Version und macht die hinlänglich bekannte Geschichte neu und neu erlebbar. Was ihm an dicht gestaltendem, dynamisch sich steigerndem Bewegungsmaterial über die 60 Minuten des ersten Teils, dann über die 30 Minuten des zweiten Teils einfällt, ist schier verblüffend. Peitschend hohe Battements und rasend geworfene Ronds kontrastieren mit gertenhaft geschmeidigen Körperwellen; Schleuder, Schleifung, Umflug bis zur Stemmhebung geben den Duetten fulminanten Charakter; Gruppen kulminieren in akrobatischen Transporten. Der Choreograf nutzt, was die Emotionen vorantreibt, auch gehechtete Bodenmotionen, Schulterstand und Anleihen beim Breakdance, erzielt so einen nirgendwo abreißenden, aufgeladenen Bewegungsfluss und erhitzt das Geschehen bis zu seiner Explosion. An einigen wenigen Stellen droht dieser blanke Furor die tänzerische Form an naturalistische Gewalt zu verlieren. Wie souverän Alboresi den Raum zu nutzen und uniformen Synchrontanz zu ver-hindern weiß, schlägt weiterhin zu Buche.
Dass der Abend zu einem derart beeindruckend runden Erlebnis wird, ist neben der Lichtregie und Birte Wallbaums neutralen Kostümen zuvörderst dem bedingungslosen Einsatz einer fast zur Hälfte erneuerten, physisch enorm geforderten Compagnie erfahrener Darsteller zu danken. Erika Cucumazzos biegsame, sinnlich kontrolliert auftrumpfende Carmen, Alfonso López González als von Eifersucht zerrissener José, Thibaut Lucas Nury als mehr verführter denn verführender Escamillo, Kino Luques der Liebe verfallener Leutnant, der stoische, omnipräsente Tod des Jett Shoesmith – sie alle geben ihren Figuren Kontur und Persönlichkeit und sind umringt von einem Ensemble mit Zukunft. Nordhausens Ballett ist allemal eine Reise wert!
Alboresi rahmt seine Inszenierung mit dem Blick auf einen aufgewühlten José, der als Mehrfach-mörder im Gefängnis seine Hinrichtung erwartet. Stets an seiner Seite ist personifiziert der Tod, blond, dominant, in schwarzem, rotgeädertem Mantel mit langer Schleppe, die immer wieder über José, später auch über die todgeweihte Carmen hinweg streift. Wolfgang Kurima Rauschnings Bühnenbild bleibt durchgängig abstrakt und vermeidet die Arena-Anmutung der Moskauer Uraufführung. Lediglich einen Stierkopf als Symbol unentrinnbar frühen Sterbens drängt der Tod seinen Auserwählten mehrfach auf. Zwei gewaltige Hörner im Hintergrund sind drohend bewegliche Requisiten. Rückblickend durchlebt José nach einem rasanten Qual-Solo nochmals die Stationen seines Leidensweges.
Der beginnt, als er nach einem Streit unter Arbeiterinnen jene verhaften muss, die, von den Frauen provoziert, ein Messer gezückt hat. Carmen weiß ihre Reize dienlich einzusetzen und José seine Dienstpflicht vergessen zu lassen. Lange wehrt er sich gegen das auftobende Gefühl, bis es ihn verhängnisvoll überrollt: Den um Carmens Liebe konkurrierenden Leutnant ersticht er, den Banditen Garcia, Carmens Langzeitaffäre, erwürgt er, ehe auch die Ungebärdige dieses Schicksal ereilt. Der Tod hat seine Arbeit getan, hindert im Schlussbild indes den verzweifelten José daran, gegen sich selbst das lebensraubende Messer zu richten.
Ivan Alboresi dehnt die Story durch zahlreiche tänzerische Monologe, die namentlich Josés inneres Befinden nach außen kehren. Julia Wolfes spätminimalistisch verharrende Streicherpassagen, flirrend, drängend, bisweilen nervös flatternd, oft mit gehaltenem Dauerton, bieten die notwendigen Zäsuren in Bizets melodisch-furiosen Klangvorgaben. Die Choreografie verzichtet auf eine äußerlich dramatische Erzählweise, setzt überwiegend auf den Einsatz rein tänzerischer Mittel und findet so zu einem beinah sinfonischen Erzählgestus. Genau das unterscheidet Alboresis Version und macht die hinlänglich bekannte Geschichte neu und neu erlebbar. Was ihm an dicht gestaltendem, dynamisch sich steigerndem Bewegungsmaterial über die 60 Minuten des ersten Teils, dann über die 30 Minuten des zweiten Teils einfällt, ist schier verblüffend. Peitschend hohe Battements und rasend geworfene Ronds kontrastieren mit gertenhaft geschmeidigen Körperwellen; Schleuder, Schleifung, Umflug bis zur Stemmhebung geben den Duetten fulminanten Charakter; Gruppen kulminieren in akrobatischen Transporten. Der Choreograf nutzt, was die Emotionen vorantreibt, auch gehechtete Bodenmotionen, Schulterstand und Anleihen beim Breakdance, erzielt so einen nirgendwo abreißenden, aufgeladenen Bewegungsfluss und erhitzt das Geschehen bis zu seiner Explosion. An einigen wenigen Stellen droht dieser blanke Furor die tänzerische Form an naturalistische Gewalt zu verlieren. Wie souverän Alboresi den Raum zu nutzen und uniformen Synchrontanz zu ver-hindern weiß, schlägt weiterhin zu Buche.
Dass der Abend zu einem derart beeindruckend runden Erlebnis wird, ist neben der Lichtregie und Birte Wallbaums neutralen Kostümen zuvörderst dem bedingungslosen Einsatz einer fast zur Hälfte erneuerten, physisch enorm geforderten Compagnie erfahrener Darsteller zu danken. Erika Cucumazzos biegsame, sinnlich kontrolliert auftrumpfende Carmen, Alfonso López González als von Eifersucht zerrissener José, Thibaut Lucas Nury als mehr verführter denn verführender Escamillo, Kino Luques der Liebe verfallener Leutnant, der stoische, omnipräsente Tod des Jett Shoesmith – sie alle geben ihren Figuren Kontur und Persönlichkeit und sind umringt von einem Ensemble mit Zukunft. Nordhausens Ballett ist allemal eine Reise wert!
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