Spiegelbilder gesellschaftlicher Zustände
Junge Choreografen erobern die Cottbuser Kammerbühne
Es gehört zu den vornehmsten Aufgaben eines Ballettdirektors, nach choreografischen Talenten in seiner Compagnie zu fahnden und ihnen Möglichkeiten einzuräumen, sich auszuprobieren. Ob dabei im ersten Anlauf gleich große Kunstwerke entstehen, ist nicht die Frage: Auch mancher heute bedeutende Choreograf hat sich nicht gleich als Meister erwiesen. Ballettchef Dirk Neumann in Cottbus stellt sich dieser Verantwortung und stößt auf rege Resonanz. Von den neun Tänzerinnen und Tänzern seines Ensembles sind fünf dem Aufruf gefolgt, ergänzt wird das Vorhaben durch Stücke von drei Gästen. „Aufbruch zu neuen Ufern“, der Abend junger Choreografen, bietet ein Kaleidoskop an Themen, Anliegen und keimenden tänzerischen Handschriften, gespeist aus dem, was junge Künstler in ihrer Entwicklung ganz allgemein und in den gegenwärtig schwierigen Zeiten bewegt. Die Kammerbühne mit ihrem sehr direkten Kontakt zum Zuschauer ist das Podium, das es zu beleben und zu füllen galt.
Großes geht Annalisa Piccolo im Auftaktstück des anderthalbstündigen Defilees an. „7Point8“ lässt Texte aus der UN-Charta der Menschenrechte zitieren, elegisch unterlegt mit „Alle Menschen“, Max Richters musikalischem Kommentar zu diesem weiten Feld. Angesichts der täglichen Verletzungen jener Menschenrechte weltweit mutet wie ein lieber Traum an, was die drei Paare an Schmiegungen und harmonischen Fassungen miteinander erleben – und zugleich als mahnender Aufruf zu Friedfertigkeit.
Persönliche Erfahrung mag sich in Simone Zanninis Duett „Wo gebrochene Herzen hingehen“ mit Begeisterung für die gewählte Musik mischen. „Wo die schönen Trompeten blasen“ aus Gustav Mahlers Zyklus „Des Knaben Wunderhorn“ trägt die kurze Episode über den Schmerz einer verlorenen oder unerfüllten Liebe. Was im Gesangstext den Abschied eines Soldaten von seiner Liebsten betrauert, wird zur Liebesklage eines Mädchens, dem der Schatten des Ersehnten oder Verflossenen ständig neue Nahrung zum Leiden gibt. Frei geht Zannini mit dem Klang um und lässt die Verzweifelte in mannigfachen Hebungen schweben. Dass sie auf die Textstelle vom Weinen wirklich herzergreifend schluchzt, doppelt unbotmäßig die gesungene Aussage, wo es einer adäquaten choreografischen Stilisierung bedurft hätte. Am Ende legt die Frau das Gesicht des Schattens frei, es kommt zum Kuss, ehe sie den schwarz Verhüllten weiter bis auf einen Slip entkleidet: Weil er dennoch passiv bleibt, kann sie lachend ihr Weh besiegen. Emily Downs und Stefan Kulhawec gestalten beeindruckend.
Jhonatan Arias Gómez hat sich zu einer musikalischen Collage eine kraftvolle Hommage gleich an die Frauen schlechthin einfallen lassen. „Women’s Empowerment“ stellt in vier knappen Kapiteln vier von ihnen zwischen lässig und sexy vor, beweist dabei Bewegungsvokabular und entlässt sie so stolz wie selbstbewusst in ihr Leben. Im „Studio 0.1“ stoßen zwei Paare aufeinander und suchen nach Gemeinsamkeit. Alyosa Forlinis choreografischer Erstling setzt viel auf Binnenkörperliches am Platz, nutzt indes noch zu wenig den Raum. Das gelingt Mario Barcenilla Rubio, Eleve der Compagnie, in „Maskerade“ bereits entschieden besser. Zu fingerflinken Klavierläufen nach Bach treffen Rubio, Annalisa Piccolo und Denise Ruddock auf einem Ball zusammen, maskiert, mit Frack und weißen Handschuhen. Keine Enttarnung lautet die Regel. So bleiben die drei Gäste isoliert; als der Herr dennoch seine Maske ablegt, entziehen sich ihm die Damen. In Idee, Umsetzung, Bewegungsangebot und Raumgefühl ein Beitrag, der Hoffnungen weckt.
Ein Neuling als Choreograf ist Jason Sabrou, bis zu einer Verletzung Mitglied des Cottbuser Balletts, nicht mehr. Ungewöhnlich, was er Stefan Kulhawec förmlich auf den Leib geschrieben hat: „Unspoken speech“, ein Solo zu Charles Chaplins Schlussmonolog aus dem Film „Der große Diktator“, unterfüttert mit leiser Filmmusik von Hans Zimmer. In dem Maß, wie sich der Sprecher in seinem Appell gegen Hass und Krieg, für Einigkeit und Freiheit stimmlich steigert, gerät auch der Tanz zu einem virtuosen Taumel im magischen Lichtkreis. Chaplins Appell ist aktueller denn je, denkt man an all die gegenwärtigen gesellschaftlichen Verwerfungen.
Den längsten Teil unter den oft wenige Minuten kurzen Choreografien liefert als Rauswerfer Denise Ruddock. „Between these Hands“ verknüpft fünf unterschiedliche Typen in ein Gefühlsgerangel um Begehren und Ablehnung, und das auf teils ungemein witzige Weise. Es darf geschmunzelt werden, wie eine Frau mit Brille vergeblich versucht, einen der Männer für sich zu gewinnen. Ein Popstar taucht zur allgemeinen Bewunderung auf und wird befingert, auch zwischen zwei Männern scheint es vorübergehend zu funken. Am Ende der nicht immer durchsichtigen, etwas länglichen Tour durchs Emotionengewitter finden sich alle eng umschlungen in der gleichen Sehnsucht nach Nähe und Geborgenheit. Musikalisch bleibt der titelgebende Song des Israelis Asaf Avidan mit seiner hohen Stimmlage als Folie für ein Männersolo im Gedächtnis – ebenso wie zuvor im Programm der bezaubernde uigurische Tanz „Berg der Götter“, den Venira Welijans für sich und Simone Zannini vor einer stimmungsvollen Berglandschaft entworfen hat, wohl auch als politisches Statement für eine unterdrückte Minderheit im Vielvölkerstaat China. Den jungen Cottbuser Choreografen mag man künftig gern wiederbegegnen!
Kommentare
Noch keine Beiträge
Please login to post comments