"Die Menschliche Stimme" von Arila Siegert: Leonora Weiß-del Rio, Lorenzo Malisan, Aya Sone

"Die Menschliche Stimme" von Arila Siegert: Leonora Weiß-del Rio, Lorenzo Malisan, Aya Sone

Bewegte Erinnerungen

"Die Menschliche Stimme" von Arila Siegert

Musiktheater choreografisch inszenieren, erstaunlich wie dies Arila Siegert mit dem Monolog von Francis Poulenc am Mittelsächsischen Theater in Freiberg gelingt.

Freiberg, 19/04/2022

Nach ihrer erstaunlichen Karriere als Tänzerin in ersten Positionen in Dresden, beim Tanztheater der Komischen Oper in Berlin, dann als Choreografin und Ballettdirektorin, hat sich Arila Siegert immer intensiver dem Musiktheater zugewandt und dabei auch immer stärker, von Inhalten und Musik ausgehend, vor allem choreografisch inszeniert. Das heißt nicht, dass Sänger*innen tanzen müssen, Choreografie bedeutet für sie vor allem, die Dialoge in optische und klangliche Bewegungen zu versetzten, Räume zu bewegen und dabei die Wahrnehmungshorizonte der Zuschauer*innen zu öffnen. Jetzt ist ihr in der Zusammenarbeit mit der ebenso wie sie von Ruth Berghaus geprägten Ausstatten Marie-Luise Strandt ein großer Abend gelungen, und dies mit einem Werk, das eigentlich gar nicht der großen Form verpflichtet ist. Aber das vermag ja gerade die Choreografie: das Große im Kleinen zu erspüren.

Für das Mittelsächsische Theater in Freiberg, dem ältesten Stadttheater der Welt, hat Arila Siegert „Die Menschliche Stimme“ von Francis Poulenc nach dem Monolog von Jean Cocteau inszeniert. Diese immer wieder kräftig unter die Haut gehende Aufführung nach üblichen Kriterien einer Inszenierung zu beschreiben, wäre nicht angemessen. Arila Siegert ist nämlich vor allem eine choreografische Inszenierung gelungen, die trotz szenischer Eigenheiten – die sich aber am Ende erschließen – letztlich ganz nah an der Vorlage bleibt. Das gilt für den 1939 in Paris uraufgeführten Monolog von Jean Cocteau, „La Voix humaine“, und vor allem für die eher assoziativen Ebenen der Komposition gleichen Titels von Francis Poulenc, uraufgeführt 1959 in Paris.

Mitunter wird der Titel des knapp 45-minütigen Monologs auch als “Die geliebte Stimme“ übersetzt. Im Mittelpunkt steht bei einfachster, szenischer Anordnung eine Frau, die mit ihrem Geliebten telefoniert, der sie betrogen und verlassen hat. Sie will ihn immer wieder zum Eingeständnis dessen bringen, mehrfach wird die Leitung unterbrochen, die Betrogene verfängt sich in der seinerzeit noch langen Schnur des Telefons, und mit dieser um den Hals geschlungen, stammelt sie „Ich liebe dich...“ Der Vorhang fällt. Die immer wieder beschworene und angeflehte geliebte Stimme ist aber niemals vernehmbar, und somit könnte diese namenlose Frau in ihrem Wahn verlöschen. „Das Stück endet wie in einem blutüberströmten Zimmer“, so der Autor Jean Cocteau. Wichtig das „Wie“.

Arila Siegert geht hier noch weiter, es ist weder ein Telefon nötig noch dessen tödliche Schnur, zumal sie mit Leonora Weiß-del Rio eine Sängerdarstellerin hat, die im Facettenreichtum ihres musikalischen Ausdrucks vor allem so mutig wie authentisch ist, wenn es darum geht, dem Wahn ihrer einsamen Visionen kraft des vornehmlich rezitativischen Gesangs Gestalt zu geben. Sie umgibt sich mit einem Netz von Gedanken, die in keiner Weise der Realität entsprechen können. Sie begibt sich in einen Totentanz. Dies wiederum ist Anlass für Arila Siegert, die Tänzerin Aya Sone als seelisches Abbild sichtbar zu machen, den Tänzer Lorenzo Malisan als Tod und ihn immer wieder die scharfen Drähte eines Netzes von Fluchtvisionen jener einsamen Frau durch den Raum spannen zu lassen.

Dieser Raum von Marie-Luise Strand mit vier kalten, quadratischen, massiven Säulen aus Beton und der Andeutung eines Fensters im Hintergrund, bei dem der Lichteinfall zur Form eines Kreuzes wird, lässt natürlich an einen Raum des Abschieds denken. Wie ein optischer Widerspruch darin ein Sofa, auf dem es dann auch für diese einsame Frau Momente sehnsuchtsvoller Visionen geben kann, zärtlich umgeben von ihrem seelischen Abbild und dem Tod. Wenn der Monolog auf dem Weg ins Verlöschen noch einmal mit einer selbstbetrügerischen Liebesvision endet, dann ist dieses Leben längst zu Ende, und es ist der Tanz, der dieser choreografischen Inszenierung des unausweichlichen Rituals menschlicher Endlichkeit letztlich auch Bilder des Trosts geben kann. Der Tod in Form des Tänzers ist kein Sensenmann, kein Schnitter, er ist ein Partner, in der Vision vielleicht sogar ein Abbild jenes Partners, dessen geliebte Stimme hier niemals zu vernehmen war. Und die Tänzerin als tanzende Seele lässt mitunter bewegte Erinnerungen aufleuchten, in denen diese nun längst verloschene geliebte Stimme zu vernehmen war. Und dazu gibt es ein in jedem Moment so tragfähiges, weitere Fantasien beflügelndes Fundament eines Gewebes höchst differenzierter Klänge mit dem so grandiosen wie mitfühlend umsichtigen Dirigenten José Luis Gutiérrez am Pult der Mittelsächsischen Philharmonie.

Ja, so kann Theater berühren, so können Klänge auch immer wieder jene, in die Weite der Unerreichbarkeit verlegten Horizonte eigener Erfahrungen öffnen, in dieser Einheit der Klänge, der Bewegungen und der Optik, bei der ein Raum des Abschieds zu dem der Ankunft werden kann, nämlich auf dem Weg zu sich selbst, zur Wahrnehmung der eigenen, so menschlichen wie auch geliebten Stimme. Und mit dem Tanz, mit der Bewegung gelingt es sogar, in die Bereiche dessen vorzudringen, was sich sowohl der Worte des Gesanges als auch der Assoziationen des Klanges versagt.

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