Schlafen als aktive Teilnahme

Ein Blog über das „under-construction-Festival“ in Wuppertal

Thaddäus Maria Jungmann appelliert für Schlaf als dramaturgisches Mittel einer Performance.

Wuppertal , 12/05/2022

Studierende des BA Tanz und MA Tanzwissenschaft der Hochschule für Musik und Tanz Köln bloggen über das „under construction-Festival“, das von 06-08. Mai im zukünftigen Pina Bausch Zentrum stattfand. In einem 48-Stunden-Marathon versammelte es Performances, Musik, Animation, Rollerskating, Yoga, Clubbing, Konzerte, Aktionen wie Bäume pflanzen und Gespräche von und mit lokalen und internationalen Künstler*innen und Aktivist*innen.

 

Es ist Samstagabend gegen 19:00 Uhr. Der Beginn des fünften Zeit-Slots leitet gleichzeitig die Halbzeit des 48-Stunden-Festivals „under construction“ ein. Ich sitze auf einem Plastikstuhl im Foyer des ehemaligen Schauspielhauses Wuppertal. Hinter mir drängen sich die letzten Sonnenstrahlen durch die große Fensterfront. Vor mir flackern, als Teil des Bühnenbilds der Performance „NEHANDA“ von Nora Chipaumire, einzelne LED-Kerzen. Trotz des Plastikstuhls stellt sich dadurch eine gewisse Gemütlichkeit ein. Nach einem versichernden Blick nach links und rechts, erlaube ich meiner Hüfte in kaum merklicher Geschwindigkeit nach vorne zu rutschen. Meine Beine folgen mutig und finden sich in einem entspannten 45 Grad Winkel wieder. Angekommen. Ich meine einen strafenden Blick von der Seite zu spüren, sodass ich den 90 Grad Winkel in Hüfte und Knie wieder herstelle; nach außen hin als eine aktive Sitzhaltung lesbar.

Mittlerweile erhellen sechs Fluter den Raum. Trotzdem wird mein Körper unruhig und befiehlt, hingelegt zu werden, doch der Befehl darf auf keine Resonanz stoßen. Stattdessen beuge ich meinen Oberkörper nach vorne, stelle meinen rechten Ellenbogen auf meinen Oberschenkel und stütze mein Kinn in meinen rechten Arm. Stabilisiere ich die Konstruktion sonst durch meine linke Hand, rutscht diesmal mein ermüdeter Ellenbogen weg. Den Aufprall meines Kopfes auf das rechte Knie kann ich gerade noch verhindern. Den Ausrutscher tarne ich für mein Umfeld als Beginn einer kleinen Bewegungseinheit. Innerlich zerreißt es mich vor Scham.

Ich habe das Gefühl mich falsch zu verhalten. Obwohl mir vorab keine bestimmten Regeln an diesem Ort auferlegt oder gewisse Handlungen untersagt wurden, verbiete ich meinem Körper zu schlafen. Ganz allgemein scheint es einen stillen Konsens darüber zu geben, dass Aufführungen mit offenen Augen rezipiert werden sollen, oder warum sonst versuche ich meinen Körper wach zu halten?

Aus Angst vor unterstelltem Desinteresse, zwinge ich mich dazu meine Augen offen zu halten. Ich nehme Stift und Papier aus meiner Tasche und inszeniere mich mit Hilfe des sichtbaren Vorgangs des Notierens als aktiven Zuschauer. Ich fürchte mich schon vor der obligatorischen Besprechungsrunde mit Sekt, bei der die Erzählung des Gesehenen dominiert.

Ich setzte mich noch mehr unter Druck, keine weitere der Bewegungen auf der Bühne zu verpassen, um einen vollständigen Eindruck der Performance zu bekommen. Ich ärgere mich kurz über die Hierarchie von Sinnesorganen im westlichen Kulturbereich, beschließe, mich zukünftig dem Begriff Zuschauer*innen zu widersetzen. Denn meine Wahrnehmungen während meines Schwebezustandes zwischen rhythmischen Klängen der Performance und des Parfums der Person neben mir, beschreiben mich eher als Zuhörer und, ich möchte fast sagen, Riecher. Also gebe ich dem Wunsch meines Körpers nach und entspanne meine Muskeln. Ich nehme weiterhin aktiv am Geschehen teil, nur eben in einem anderen Zustand.

Das 48-Stunden-Festival wird für mich zum Marathon. Von kleinen Pausen abgesehen, bin ich seit 36 Stunden wach. Mit der etablierten „Care Station“ innerhalb des Programms präsentiert sich das Festival als ein Ort der Fürsorge; sie haben Regeneration und Schlaf als nachhaltige Ressource erkannt. Ich höre laute Atemgeräusche, die Bewegungen der Performerin scheinen intensiver zu werden, mein Schlaf auch. Ich habe den Moment verpasst, mich von der Care Station pflegen zu lassen. Nun pflegt mich Nora Chipaumire. Es gibt eine räumliche Trennung, wo Regeneration stattfinden darf und wo es zwar nicht verboten ist, aber bisher nicht mitgedacht wird. Ich habe diese Trennung illegaler Weise durchbrochen. Ich fühle mich gut dabei. Deswegen schlage ich vor, körperliche Zustände an verschiedenen Orten zirkulieren zu lassen. Warum nicht Schlaf als dramaturgisches Mittel für Performances nutzen? Einschlafen nicht länger als Langeweile, sondern als Chance auf Genuss verstehen. Feste Aufführungstermine werden zu potenziellen Schlafenszeiten. Ich würde mir gerne eine Dauerkarte kaufen. Doch wird dann Schlaf zum luxuriösen Privileg?

Geweckt vom Applaus muss ich mich kurz im Raum orientieren. Die Fluter sind aus und die Performerin verschwunden. Draußen ist es noch hell. Die Performance soll anhalten; ich will weiterschlafen.

 

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