Tanz auf schwankendem Boden
"Wonderful World", eine inspirierende Uraufführung von Martin Zimmermann und Kinsun Chan
Heiter, exaltiert, virtuos, aber auch bedrohlich und abgründig ist das Stück, mit dem das Tanzfestival STEPS (28.4.-22.5.) startete: "Wonderful World" von Martin Zimmermann und Kinsun Chan. Der eine ist Schweizer und als Tänzer, Choreograf, Clown und Zirkusakrobat international berühmt. Der andere stammt aus Kanada, hat asiatische Wurzeln, lebt seit langem in der Schweiz. Er kommt vom klassischen Ballett her, tanzte in Zürich unter Heinz Spoerli und in Basel unter Richard Wherlock; seit 2019 ist er künstlerischer Leiter der Tanzkompanie Theater St.Gallen. Diese bringt nun «Wonderful World» auf die Bühne.
Man kann nicht behaupten, die beiden eng befreundeten, aber so verschiedenen Choreografen hätten sich bei ihrer Arbeit stilistisch stark vermischt. Der mittlere von drei Teilen ist klar der hintergründigen Fantasie von Zimmermann entsprungen, im ersten und dritten Teil sind Chen und die überbordenden Einfälle seiner 15-köpfigen Leute maßgebend. Inspiriert haben sie einander aber schon, etwa in den Übergängen zwischen den einzelnen Bildern.
Im ersten Teil des Stücks tragen die Tanzenden wild gemischte, sexy schwarze Kleiderteile. Die neue Schreibweise Tänzer*innen passt bestens zu ihnen, denn sie spielen lustvoll mit ihren Geschlechterrollen. Einzeln oder als Gruppe erobern sie die Bühne, brabbeln Unverständliches, erfinden verrückte Bewegungen, lassen zuweilen neckisch klassische Elemente durchscheinen. Lustvoll, exaltiert, schräg, kräfteraubend wirkt das Ganze – und auch ein bisschen nervtötend mit seinem durchgehend hämmernden Bass (Komposition: Hans-Peter Pfammatter, Daniel Steffen).
Dann ändert sich die Szene von Grund auf. Die sexy Kleider sind dunklen Hoodies gewichen, die Kapuzen haben die Tanzenden so tief ins Gesicht gezogen, dass man manchmal nicht weiss, was vorn und hinten ist. Der feste Boden beginnt zu schwanken, nach vorn und hinten und hin zu den vier Ecken. Alle ringen um ihr Gleichgewicht. Ein Heer von Duckmäusern scheint die Bühne zu bevölkern, Soldaten schleppen Tote von der Bühne, im Hintergrund entwickelt sich eine Art Mummenschanz mittels gleichgeschalteter Arme und fahler Köpfe. Sehr bedrohlich wirkt die Szene, absurd, doch nicht ohne Schabernack. Die Tänzerinnen und Tänzer bleiben auch hier, auf schwankender Bühne, bestens präsent.
Im dritten und letzten Teil ersetzen farbige Alltags-Klamotten die vorherige schwarz-graue Bekleidung. Es wird gefeiert. Zwei Tänzerinnen und zwei Tänzer machen die Oberkörper frei und umarmen einander. Lebensfreude und -lust breiten sich aus - auch ein bisschen Kitsch macht sich bemerkbar. Zum Schluss finden wieder alle zusammen, summen und pfeifen die von Louis Armstrong stammende Titel-Melodie, begleitet von einer Ukulele. Die World ist eben doch wonderful!
Das diesjährige STEPS-Tanzfestival ist das 18. seit seiner Gründung 1988 und steht unter dem Motte "Neue Perspektiven". Als künstlerische Leiterin mit grosser Erfahrung wirkt Isabella Spirig. Bei der Eröffnung in der Lokremise St.Gallen am 28.April pries sie «Wonderful World» verschmitzt als Welt-Uraufführung an. Dabei ist STEPS 2022 weniger welthaltig als früher, mehr national als international bestimmt. In sieben von neun Produktionen kommen einheimische oder in der Schweiz lebende Tanzschaffende zum Zug. Das ist durchaus sympathisch, hängt aber vor allem damit zusammen, dass in den vielfach eingeschränkten Corona-Zeiten auswärtige Engagements noch unsicherer waren als nationale.
Die Premierengäste zeigten sich begeistert von «Wonderful World». In den folgenden Wochen tritt die Gruppe in sechs weiteren Städten der deutschen und französischen Schweiz auf.
Programmübersicht: www.STEPS.ch
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