„Afterlife, Afterlove, Afterdeath“ von Lillian Stillwell, Tanz: Ensemble

When the Heart drops

„Afterlife, Afterlove, Afterdeath“ von Lillian Stillwell am Theater Münster

Mit dem plötzlichen Tod im Club setzt jeder Rhythmus aus. Getanzt wird aber trotzdem. Und wer schlägt die Brücke zwischen der Liebe und dem Leben? Natürlich Cher.

Münster, 12/10/2024

Direkt reingezogen wird das Publikum, rein in den Club und die treibenden, lockeren Beats. Schon beim Betreten des Saals steht das DJane-Duo Schwifi an den Reglern; die Tänzerinnen und Tänzer des Ensembles genießen den Moment und geben sich ganz dem Moment hin. Da wird einfach losgelegt, ganz individuell, bisschen Vogueing darfs auch sein. Dafür reicht eine leere Bühne. Einige Zuschauer machen es sich direkt auf ihr gemütlich, entlang der Wände, auf Bänken. An der Decke liefern ein paar farbige Röhren das Club-Feeling. Ada Fischer und Felicia Riegel haben dazu dem Ensemble zurückhaltende Kostüme verpasst, gedeckte Farben, reduziert, aber ganz individuell. 

Lillian Stillwell lässt ihr Ensemble für „Afterlife, Afterlove, Afterdeath“ lange einfach ihr Ding machen, bis Aline Serrano und Yoh Ebihara als Protagonisten und Dreh- und Angelpunkt die Meute aufmischen. Wenn sie schließlich unter sich sind, werden sie emotional, zeigen ihre Zuneigung. Das Vokabular wechselt dafür deutlich in einen choreografierten Stil, was für den Moment, nach der freien Club-Atmo, fast wie erzwungen und etwas steif wirkt. Die Beats werden ausgebremst, eine Komposition von Gaspard de la Montagne dreht die Stimmung von fröhlicher Ausgelassenheit zu emotionalem Couching. Die Intimität ist intensiv, Vertrautheit und Nähe. Wenn auch ein Kuss ohne jegliche Berührung bleibt. Aber lange bleiben sie nicht unter sich. Die Beats kommen wieder. Da bleibt keine Zeit zum Verharren. Alles muss weiter. Die Meute ist zurück, und was folgt, ist fast ein logischer Griff: Ein Stück, das das Leben nach dem Tod in den Club holt, wie der Titel erahnen lässt, kann nicht ohne Chers Kracher „Believe“ auskommen. Genüsslich gibt sich das Ensemble synchron mit feiner Ironie den cheesy Sounds hin. Ein wunderbarer Moment für das Publikum, wenigstens sitzend mitzufeiern. 

Der Tod kommt immer unerwartet

Wenn das Paar dann wieder einen Moment der Ruhe für sich findet, entsteht durch den erneuten, abrupten Wechsel der Stimmung die Frage, ob die Gefühle hier eigentlich mehr kennen als nur den Augenblick. Kann man diese Gefühle als echt ansehen? In der Masse wird irgendwann ein fast rituelles Miteinander sichtbar, immer wieder fangen die Bewegungsabfolgen von vorn an. Bis einer auf der Strecke bleibt. Yoh Ebihara fällt plötzlich einfach um. Einfach so. Nicht nur, dass es eine ganze Weile dauert, bis sein Tod den anderen bewusst wird. Aline Serrano bleibt mit ihren Gefühlen auch noch allein. Ihr darauf folgendes Solo fällt geradezu aggressiv aus. Und die anderen? Die üben sich (unbewusst?) in Zynismus und „spielen tot“, indem sich eine Tänzerin unvermittelt fallen lässt, um von den anderen aufgefangen zu werden. Als wäre das nicht schon unerträglich genug, wollen alle auch noch Alines Geburtstag feiern. Die aber hat verständlicherweise null Bock auf gute Laune per Knopfdruck. Mit diesem emotionalem Tiefpunkt endet der erste Teil des Abends.

Nach der Pause ist das DJ-Pult so verschwunden wie der gesamte Club. Kein Ort, nirgends, wenn Ebihara, jetzt in einem hautfarbenen Dress mit feinen Linien, die an Adern denken lassen, einsam im Bühnennebel vor sich hin leidet. Die Musik stammt in diesem Teil komplett von de la Montagne; konzeptionell verspielt wechseln die Sounds zwischen großen, elegischen Flächen und überraschenden Impulsen. 

Unort der Einsamen

An dem Ort, an dem Ebihara jetzt sein Nicht-Dasein fristet, ist er aber nicht allein. Neben ihm tauchen weitere verlorene Seelen auf. Aus dem Off hört man Selbstbeschreibungen à la „Ich bin ... Ich war ... Ich vermisse ...“. Es ist ein allseitiges Sehnen nach der Erinnerung, eine Sehnsucht nach dem, was war, aber eben nicht mehr ist. Durch den Wegfall des Gewesenen haben diese Toten ihre Rolle in der Gesellschaft verloren. Sie haben nur noch sich selbst, was aber keine Erfüllung bringt: Immer wieder ringen die Tänzerinnen und Tänzer miteinander, zwar über die ausgestreckten Arme miteinander verbunden wie zu einem Band, aber doch ohne ein Ganzes zu bilden. 

In dieses Ringen umeinander bricht im Wortsinn das Leben. Drei Tänzer*innen, unter ihnen Serrano, mischen sich unter die Toten, ohne aber ihrer bewusst zu werden. Es sind zwei Ebenen, die weniger räumlich zu verstehen sind als emotional oder zeitlich. Die drei Tänzer*innen tragen jetzt auffällig farbig gestaltete Kostüme, ein Fest des Lebens. Sie sind es, denen das Miteinander gelingt, scherzhaft, entspannt. Bis sie innehalten, abbrechen, als legten sie eine Pause in der Probe ein. Während sich Serrano zu erinnern scheint, schmiegt sich Ebihara fast an sie. Eine Verbindung, sie ist noch sichtbar, nur nicht greifbar. Der Tod, er tanzt mit. Oder wie eben Cher rhetorisch fragt: Do you believe in life after love?

Dass das Ensemble sichtbar seine Individualitäten einbringen kann, macht diese Arbeit überzeugend. Choreografisch lehnt sich hier niemand mit Experimenten aus dem Fenster. Das ist solide Arbeit. Die beiden „Welten“, die Stillwell hier skizziert, existieren eigentlich nicht räumlich. Konzeptuell und dramaturgisch ist ihr Ansatz desto interessanter. Der Griff, den Tod in die Glücksmomente im Club einbrechen zu lassen, ist so schwer zu fassen, wie er gleichzeitig stimmig erscheint. Der Tod fragt halt nicht, ob es gerade passt. 

 

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