„Kratt“ von Antoine Jully, Tanz: Teele Ude, Fran Kovačić und Ensemble

„Kratt“ von Antoine Jully, Tanz: Teele Ude, Fran Kovačić und Ensemble

Düstere Szenen mit Happy End

Antoine Jully zelebriert sein 10-jähriges Jubiläum am Oldenburgischen Staatstheater

Dem Choreografen gelingt mit der deutschen Erstaufführung des estnischen Handlungsballetts „Kratt“ einmal mehr ein anspruchsvoller und beeindruckender Abend!

Oldenburg, 14/05/2024

Ein großes Projekt hat sich Antoine Jully zu seinem 10-jährigen Jubiläum als Chefchoreograf und Ballettdirektor am Oldenburgischen Staatstheater vorgenommen: die Entdeckung und deutsche Erstaufführung des in Estland berühmten Handlungsballetts „Kratt“. Die Idee dazu verfolgte er schon seit 2021, doch musste diese Großproduktion mehrfach wegen Corona verschoben werden. Nun gelingt ihm mit seiner modernisierten Version ein großer Wurf, der für das Staatstheater Oldenburg bedeutend ist und für überregionale Wahrnehmung von Jullys Arbeit sorgen sollte.

Der Teufel steckt im Detail

Die 1940 entstandene Musik von Eduard Tubin und das 1943 im estnischen Tartu uraufgeführte Ballett mit seiner traditionellen Figurenkonstellation im Stil der klassischen Handlungsballette erfuhr in Oldenburg eine Neuinterpretation. Zusammen mit Dramaturgin Telse Hahmann entwickelt Antoine Jully eine Geschichte, die ihre Bezüge zu der estnischen Sagenfigur „Kratt“ und deren Ursprung in estnischen Volksbräuchen hat, aber gleichzeitig in einem zeitlosen Umfeld spielt, das Bezüge zur Gegenwart durchaus zulässt. Der Kobold Kratt – normalerweise männlich besetzt – wird hier zu einer Koboldin.

Einmal von teuflischen Kräften zum Leben erweckt, überhäuft sie ihren Besitzer mit Geschenken und Reichtümern (hier unendlich viele Kleidungsstücke) und hält ihn auch ansonsten ordentlich auf Trab. Der junge Mann, der durch drei ihm entrissene Blutstropfen an seinen Kratt gebunden ist, verliebt sich in der Interpretation von Jully in sein Geschöpf und muss im Verlaufe des Stücks viele Kämpfe überstehen, bis beide sich am Ende von der mysteriösen Kraft des Fremden – in dem der Teufel steckt – befreien. 

Teele Ude als Kratt tanzt mit feiner, sicherer Technik zunächst als kaltes unmenschliches Geschöpf und nach und nach mit immer mehr Emotionen, witzig hier, wie sie auf die Annäherungsversuche des jungen Mannes mit unbändigen, mechanischen Liebkosungen reagiert. Fran Kovačić als Junger Mann tanzt mit großer Kraft und Temperament auf hohem Niveau. Die Passagen der beiden sind – wie in klassischer Ballettmanier – mit unzähligen tanztechnischen Details gespickt: Pirouetten in allen Variationen, große Sprung-Manegen und variantenreiche Hebungen, die alle Protagonist*innen mit Bravour bewältigen. Besonders virtuos auch Seu Kim, der mit dem rätselhaften Fremden (mit knallroter Perücke) den teuflischen Part übernimmt.

Vielleicht liegt doch genau hier eine gewisse Schwäche im Konzept, denn wo Antoine Jully in den vielen gelungenen Gruppenszenen interessante, freie Bewegungsfolgen entwickelt, in die mühelos technische Elemente eingeflochten werden – der Tanz mit den Hemden, die folkloristischen Einschübe oder der witzige Torkeltanz der Männer nach einer durchzechten Nacht – gehen die Szenen der drei Protagonisten oft übergangslos vom Situativen in tanztechnische Bravourelemente über. Wobei der Ansatz Jullys, weitgehend auf pantomimische Elemente zu verzichten und die Geschichte ganz durch Tanz zu erzählen, insgesamt sehr geglückt ist. Dass sich der Protagonist in sein Geschöpf verliebt und es am Ende durch drei Tränen – ganz wie im Märchen – zu wirklichem Leben erweckt, mag ein versteckter Hinweis auf die Gefahren sein, die heutzutage von vermeintlich intelligenten Maschinen (Stichwort KI) ausgehen.

Dunkle Kräfte

Das Ringen mit den dunklen Kräften thematisiert auch das von Thomas Ziegler gestaltete Bühnenbild mit schwarz-weißen Projektionen und variablen Bühnenteilen, die verschiedene Räume entstehen lassen. Wunderschön ist der Moment, mit dem nach der Pause der 3. Akt beginnt: zur lyrischen Musik, die das Mittsommernachtsfest einleitet, wird das Portal und die barocke Decke des Staatstheaters mit gelb-orangen Farben wie bei einem Sonnenaufgang beleuchtet; das schafft Stimmung und bereitet den zweiten, nicht weniger kämpferischen Teil des Ballettes vor.

Vito Cristofaro führt das Oldenburgische Staatsorchester mit sicherer Hand durch Eduard Tubins schwierige Partitur: eine Musik geprägt von starken rhythmischen Passagen, kontrastiert durch lyrische Momente, die – wie zu Beginn des 3. Aktes – in ein Traumland entführen können. Es ist aber eine insgesamt antiromantische Musik, die trotz vieler einverwobener folkloristischer Elemente wenig eingängig wirkt. Das Staatsorchester musiziert souverän und mit großem Engagement. Ein für das Publikum anspruchsvoller, aber beeindruckender Abend! Angesichts dieser herausragenden Leistung der gesamten Compagnie würde man Antoine Jully einige Tänzer*innen mehr in seinem Ensemble wünschen.

 

Kommentare

Noch keine Beiträge

Ähnliche Artikel

basierend auf den Schlüsselwörtern