„The Human Attributes“ von Swee Boon Kuik

Behutsam, dynamisch, explosiv

TanzLuzern startet mit dem Programm „Beyond“ überzeugend in die Spielzeit

In „The Human Attributes“ von Swee Boon Kuik und „Seremos“ von Andrea Miller treffen zwei packende Bewegungssprachen aufeinander.

Luzern, 20/10/2024

Mit dem Doppelabend „Beyond“ ist TanzLuzern ein eindrücklicher Start in die Spielzeit 2024/25 gelungen. Die Künstlerische Leiterin Wanda Puvogel hat mit Andrea Miller und Swee Boon Kuik zwei große Namen aus den USA und Asien in das pittoreske Schweizer Städtchen eingeladen.

Swee Boon Kuik leitet in der der asiatischen Metropole Singapur seit 2008 seine Compagnie T.H.E. The Human Expression, die nicht nur dort und im asiatischen Raum für Aufsehen sorgt, sondern auch bei Festivals weltweit. Der aus Malaysia stammende Choreograf hat seine eigene Methodologie namens The Hollow Body™ entwickelt, mit der er auch die zehn Luzerner Tänzerinnen und Tänzer während des Probenprozesses für die Uraufführung von „The Human Attributes“ vertraut gemacht hat.

Fragen zum Fortbestand der Menschheit

Das etwa halbstündige Werk setzt Ivo Schnider in düsteres Licht. Zu Beginn ein Menschenhaufen, aus dessen amorpher Masse sich in apokalyptischem Setting peu-à-peu menschliche Gestalten schälen, die sich langsam vom Boden in die Aufrechte orientieren. Caroline Stark hat nicht nur für schwarz-grau-braune Outfits gesorgt, sondern auch für das schlichte Bühnenbild, in dessen Schwärze ein kahler, verzweigter Ast ragt, an dem sich einige leere Mülltüten verfangen haben. Swee Boon Kuik stellt in dem Stück Fragen zum Fortbestand der Menschheit: Gibt es einen Neuanfang nach der Katastrophe und wie gestaltet man ihn? Das lässt er die Tänzer*innen mit ihren Körpern ausloten, gibt ihnen ein physisches Instrumentarium an die Hand, mit dem sie das, was den Menschen ausmacht, erkunden.

Es ist ein Gruppenstück mit einer Architektonik, die sich aus dem Rang besonders gut sehen lässt. Die Tänzerinnen und Tänzer finden sich, lösen sich, bewegen sich mal in Reihen parallel und rechtwinklig zum Saal. Seine fesselnde, ungemein dichte Choreografie zeichnet Swee Boon Kuik mit subtiler und raffinierter Behutsamkeit, in zeitlupenartigen wie auch in explosiven Bewegungen gleichermaßen. Die spannenden Bewegungsabläufe entziehen sich jeglicher Vorhersage, sind voll abrupter und unerwarteter Brüche, die jedoch den Fluss und die Fluidität nie unterbrechen.

Soghaft und pulsierend drängt die Komposition von Jing Ng und treibt die Gruppe schließlich in das Schlussbild unter den kahlen Ast – ein Schreiten hin zu einem Neuanfang in Gemeinschaft oder ein kollektives Abtreten von einem nicht lebenswerten Ort? „The Human Attributes“ ist ein beklemmendes und faszinierendes Werk, das den Wunsch weckt, weitere Stücke dieses Choreografen zu entdecken.

Vibes der Metropole

Die gefragte Choreografin Andrea Miller ist nicht nur mit ihrer in New York ansässigen Compagnie „Gallim Dance“ (der sie vor zwei Jahren auch noch eine „School of Movement“ angeschlossen hat) ungemein erfolgreich, sondern war auch erste „Artist in Residence“ des Metropolitan Museum of Art. „Seremos“ für neun Tänzerinnen und Tänzer mischt die Bühne des Luzerner Theaters mit Vibes auf, die geradewegs einer atemlos-energiegeladenen Metropole zu entspringen scheinen. Das Stück ist eine Art Semi-Uraufführung, die aus existierendem choreografischem Material ihrer Stücke „Sama“ und „From“ extrahiert wurde.“Re-worked“ und „re-invented“, so formuliert es Donterreo Culp, der mit Allysen Hooks und Vivian Pakkanen das Stück einstudiert hat. Andrea Miller ließ es sich aber nicht nehmen, für die Endproben und die Premiere selbst nach Luzern zu reisen.

Wie auch bei Swee Boon Kuik hat die Ausgangsüberlegung der Choreografin zu ihrem Werk auch durchaus dystopische Züge: Verlieren wir inmitten unserer digitalen, teilweise indirekten und sogar anonymen Kommunikation die Fähigkeit zum direkten menschlichen (Körper)kontakt und Austausch? In „Seremos“ findet sich eine – ebenfalls von Carolin Stark – in Orange gekleidete Gemeinschaft in einer Art Ritual zusammen, um einen vibrierenden physischen Gegenentwurf zu diesem Szenario zu schaffen.

Hohes, geradezu irrwitziges Tempo (Musik von Nico Jaar, Vladimir Zaldwich und Frédéric Despierre) dominiert ab der ersten Sekunde das 30-minütige Stück. Die Rasanz zieht sich durch. Es ist atemberaubend, was den Tänzerinnen und Tänzern hier abverlangt wird. Es geht von schnellem Trippeln in die Expansion, es wird gehüpft, gesprungen, gedreht, aus der Brücke raupenartig rückwärts über den Boden gehuscht. Rasante Wechsel zwischen Verschmelzen und Wegpushen lassen die Körper wie bewegliche Magnete erscheinen, die blitzschnell ihre Pole vertauschen können. Die fast berauschenden Gruppensequenzen werden durchbrochen von Duetten, Trios und Quartetten, alle einzigartig in ihrer Ausgestaltung.

Physische Verausgabung

Ein großer vertikaler Lichtkreis (Licht: Petri Tuhkanen) aus vielen einzelnen Spots weckt gelegentlich Assoziationen an eine Manege. Mathew Prichard balanciert auf allen Vieren Grazia Scarpato zu einem Duett; Kany Michel Obenga und Miguel Teixeira sind Meister des Gleichgewichts und geben sich mit scheinbarer Leichtigkeit auf stelzenartigen Stöcken dem fordernden Groove der Musik hin.

„Seremos“ scheint physische Verausgabung ins schier Unermessliche potenzieren zu wollen. Es ist eine ungemein körperliche und stellenweise regelrecht akrobatische Tour de Force, die hier von den Tänzerinnen und Tänzern hin- und mitreißend absolviert wird. Ein Erlebnis!

„Beyond“ ist ein Programm, das sich klug ergänzt und zwei hochspannende choreografische Handschriften vereint. Dem mit stehenden Ovationen gefeierten kleinen Ensemble von TanzLuzern sei großer Respekt gezollt, dass es hier wieder einmal die Fähigkeit zur kompromisslosen Hingabe an unterschiedliche und äußerst herausfordernde Bewegungssprachen demonstriert. Ein sehenswerter Abend – beyond question.

 

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