Viele Farben hat der Tanz
Eindrücke vom internationalen Festival Colours am Stuttgarter Theaterhaus
Von Lynn Kuhfuß
Dunkelbraune Erde. Dazu im Kontrast: weißer Tanzboden. Im fahlen Licht ziehen sechs Tänzer*innen anmutig langsam über die Bühne zu warmen, metallischen Klängen, sanften Flötenmelodien und tiefen, resonanten Trommeln sundanesischer Rhythmen. Unter ihren hautengen Trikots in Beige winden sich in dunklen Linien lange Haare wie eine Marmorierung aus Adern oder Wurzeln über ihre Körper. Sie schauen sich aus den Augenwinkeln an, nehmen einander wahr, und wirken im Schreiten fast wie frei von jeglicher Schwerkraft.
Mit „More Than“ war der israelische Choreograf Shahar Binyamini Dank tanz.koeln-Kuratorin Hanna Koller zum ersten Mal zu Gast in Köln. Seit seiner Zeit als Tänzer bei der Batsheva Dance Company arbeitet er neben seiner zunehmend erfolgreichen choreografischen Karriere als Gaga Lehrer und assistierte dem Batsheva-Leiter und Gaga-Begründer Ohad Naharin für dessen Produktionen mit internationalen Spitzencompanien wie dem Nederlands Dans Theater, dem Ballet du Rhin oder dem Ballett der Pariser Oper. In den eigenen Arbeiten, die Binyamini sowohl als Gastchoreograf als mittlerweile auch mit einem eigenen Ensemble auf die Bühne bringt, interessiert er sich für Schnittstellen zwischen dem Körperlichen, Seelischen und Geistigen.
Ausgehend von der Bewegungssprache Gaga
Gaga fördert die Bedeutung des Körpers als Ausdrucksmittel, das sich mit dem Geist verbindet. Tänzer*innen werden ermutigt, ihren Körper auf möglichst unvoreingenommene Weise zu erforschen und sich durch die Bewegung mit ihrer inneren Erfahrung zu verbinden. Trotz seiner engen Verbundenheit mit Naharin hat Shahar Binyamini ein klares eigenes Profil begründet, das weit mehr ist als eine einfache Gaga-Adaption. Vielleicht bedingt durch sein Studium der Biologie, das er vor seiner Zeit bei Batsheva absolvierte, interessiert sich der Choreograf für das systematische Erforschen der Beziehung zwischen Wissenschaft und Bewegung. Seine eigens dazu gegründete Forschungsgruppe ist am Weizmann-Institut für Wissenschaft angesiedelt, einem weltweit angesehenen fächerübergreifenden Forschungszentrum nahe Tel Aviv mit Arbeitsbereichen von Informativ über Mathematik bis hin zu Biochemie. Hier arbeitet Binyamini mit Tänzer*innen, Wissenschaftler*innen und Choreograf*innen zusammen.
Gefühlsforschung in Knochen, Fleisch und Haut
Wie sich anpirschend tröpfeln und klopfen die Töne eines Tombaks. In der Bühnenmitte verschmelzen die Schläge der Trommel mit den Bewegungen einer Tänzerin. Als wären die Schläge ihr Puls, artikulieren sich ihre Gliedmaßen fließend zu der Komposition „Wind & Fire“ des iranischen Tombak- und Dak-Spielers Mohammad Reza Mortazavi. Von den Schichten der körperlichen Materialität ausgehend – von Knochen, Fleisch und Haut – werden Botschaften in Bewegung transformiert. Immer wieder fragt Binyamini in seinen Stücken, so auch in „More Than“, nach dem Ort und der Quelle des Gefühlslebens: Sind Gefühle von Anfang an in uns verankert oder entstehen sie erst aus unserem situativen körperlichen Befinden oder der sinnlichen Erfahrung?
In Verbundenheit zur Erde
Einfache Antworten gibt es an diesem Abend nicht. Binyaminis Suche danach, was der Mensch ist, manifestiert sich in der Verbundenheit zur Erde: Immer dunkler werden die Kostüme der Tänzer*innen mit der Zeit, so als würden die Wurzeln unter den Trikots eins mit ihrer staubigen Haut. In der Erde auf dem Boden entstehen immer neue Muster und Verteilungen durch trippelnde, schleifende, verharrende Füße.
Zu einer Gruppe angewachsen, bäumen sich die Tänzer*innen auf, wirbeln Staub auf und ziehen sich wieder zusammen wie ein einziges pulsierendes Organ. Dieser eine lebende und atmende Körper aus Vielen zeichnet sich in Kontrasten ab. Eine Tänzerin löst sich aus einem Duett und schaut intensiv ins Publikum. Ihr Blick verharrt, dann fügt sie sich wieder ein in die ununterbrochene Bewegung aller. Immer wieder lösen sich Einzelne, suchen ihren Weg, scheinen für eine Weile eigenen Bedürfnissen zu folgen. Eine Geste der Selbstverwirklichung außerhalb der Gemeinschaft? Interessanterweise gibt es im gesamten Stück kein eindeutiges Solo – so bald nimmt das Kollektiv die Impulse der Einzelpersonen wieder auf.
Seine Frage nach dem Ursprung der Gefühle beantwortet Binyamini zu den traditionsreichen Klangwelten einer Stachelgeige des israelischen Komponisten und Musikers Mark Eliyahu mit einem genau choreografierten Blick darauf, wie sich die Perspektiven der Einzelnen und der Gemeinschaft jeweils bedingen. Verhältnisse zwischen innerem Dialog auf der einen und einer Durchlässigkeit und Mitteilungsfähigkeit des Körpers auf der anderen Seite werden abgewogen, miteinander verhandelt. „More Than“ ist dabei eine Stunde voller Sinnlichkeit, und die Suche nach der Bedeutung des Körpers als Hülle bleibt ein Suchen, ein Pendeln zwischen der ekstatischen Gemeinschaft als Gruppe und der individuellen Wahrnehmung der Bewegungen und Rolle darin. Wurden Gefühle und Stimmungen schon in den Abend mitgebracht oder entstehen sie erst durch die wechselseitige Wahrnehmung der Tänzer*innen und des Publikums?
Bevor es dunkel wird, strecken sie die Hände dem Publikum entgegen, entführend und verführend zugleich. Die Offenheit des Stücks zeigt die Bühne als Labor des Biologen und Choreografen, als spannenden Ort der Aushandlung von Tanz, Wissenschaft und Choreografie.
Dieser Text entstand im Rahmen des Projekts „Bewegungsmelder – Nachwuchswerkstatt für Tanzjournalismus aus NRW“, einer Kooperation von tanznetz mit dem Masterstudiengang Tanzwissenschaft des Zentrums für Zeitgenössischen Tanz (ZZT) an der Hochschule für Musik und Tanz Köln und dem nrw landesbuero tanz.
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