Die beste aller Welten
Tanztheater-Produktion „Spiel im Spiel“ von Ceren Oran & Moving Borders feiert Premiere im HOCHX
Wie aus dem Nichts kommt der akustische Donnerschlag mit Blitzlichtgewitter in Ceren Orans neuem Tanzstück „Shard“ (übersetzt: „Scherbe“). Es ist eine kurze, aber heftige Schrecksekunde, die jeden im Saal des Schwere Reiter kurz zusammenfahren lässt. Der inszenierte Moment, als ob etwas mit Wucht zerbricht, fährt einem buchstäblich in die Glieder. Beeindruckend, wie hier ein erschütternder Schicksalsschlag symbolisiert wird – also jener Augenblick, in dem das Leben unerwartet plötzlich aus seiner gewohnten Bahn katapultiert zu werden scheint. Und schon ist man mittendrin in Orans beispielhafter Seelenkatastrophe. Ein psychologisch cleverer Effekt, der sich am folgenden Abend bei Bassam Abou Diabs tänzerisch durchaus starker Performance „Under the Flesh“ leider nicht einstellen mag.
Bassam Abou Diab kommt aus dem Libanon. Gerade ist die politische Situation in seiner Heimat wieder einmal höchst explosiv. Rührt es daher, dass er für performance-erprobte Mitteleuropäer irgendwie fahrig wirkt? Oder nutzt er dies als Stilmittel eines orientalischen Feierabends, durch den er das Publikum wiederholt mit ansteckendem Lachen führen will? Ganz abgesehen von seinem inneren Strahlen, das die tatsächliche Tragik des behandelten Sujets nachhaltig kontrastiert. Sein Solo zeigt Diab begleitet von einem bombig aufgelegten Musiker mit zwei unterschiedlichen Trommeln und einer reizenden Übersetzerin. Beide animiert er immer mal wieder zum Mittanzen oder -singen. Hüften und Schultern zucken, Hände oder ein Seil darin flirren im Raum. Wenige Bewegungen steigern sich in Sekunden zum ausgelassenen Nachkriegs-Fest. Das hat innerhalb eines eher nüchternen Rahmens, der sich ganz aus persönlichen Erlebnisbruchstücken zusammensetzt, eine mitreißende Spontaneität zur Folge – zumindest kurzzeitig. Doch während Ceren Oran schnell zu einer realistisch packenden, sehr berührenden und künstlerisch allgemeingültigeren Ebene findet, bleibt Bassam Abou Diab stets „nur“ bei sich.
Tanz mutiert hier zur Überlebensstrategie dieses in einem Kriegsgebiet beheimateten Künstlers. Ebenso impulsiv wie mit Showcharakter führt er ein Wegrollen von imaginären Detonationswellen vor – fort aus dem Zentrum einer angenommenen tödlichen Zerstörung. Tanzend, mit aus der Folklore seines Landes entlehnten Elementen entkommt er der Angst zu sterben und wird – laut eigener Aussage – zu einem „Superman, made in Libanon“.
Auf diese Weise vier Kriege quasi wegzustecken, mag allerdings nicht bei allen im Zuschauerraum verfangen. Indem er sich auf seine eigenen Empfindungen zurückbesinnt, will Diab das Publikum emotional mitnehmen – Stufe für Stufe, Krieg um Krieg. Insgesamt drei Techniken hat er – aufeinander aufbauend – entwickelt, um den zunehmend gefährlicheren „Bomben auszuweichen und am Leben zu bleiben“. Zuletzt vollführt er einen Schwerttanz, den er am Ende noch Freiwilligen aus dem Publikum beibringen möchte. Doch bis auf eine vermutlich eingeweihte Landsfrau stürzt niemand auf die Bühne. Bassam Abou Diabs Versuch, am Ende gemeinschaftlich gegen die Machtlosigkeit angesichts nuklearer Bedrohung anzukämpfen, geht an diesem Abend in München künstlerisch nicht auf.
Ceren Oran gelingt es dagegen sehr gut, ihr Publikum zum Nachdenken zu bringen – über sich selbst und über ein helfendes Auffangen der traumatisierten Figur in ihrer Mitte. Die Uraufführung, die sich inhaltlich mit posttraumatischen inneren Zuständen befasst, die die unterschiedlichen emotionalen Stadien der Verarbeitung physisch famos durchspielt und zudem noch den gesellschaftlichen Umgang mit einer unter schwerer seelischer Verletzung leidenden Person miteinbezieht, könnte kaum griffiger als mit dem bereits geschilderten, sonoren Knall beginnen.
Zuvor hat das Publikum im Kreis auf Stühlen und davor ausgelegten Kissen Platz genommen. Anders als bei Felix Ruckerts „Ring“ – der 25 Jahre alten Eröffnung der diesjährigen Tanzwerkstatt Europa – blicken die Zuschauer*innen hier in den Kreis hinein statt heraus. Suchende Blicke schweifen an den Sitzenden entlang. Wo und wie wird Jovana Zelenović – eine tolle, beeindruckend feinfühlige Tänzerin – die Arena betreten? Erwartungsvolle Stille macht sich in dem von oben angenehm ausgeleuchteten Bühnenraum breit. Inmitten des Publikums spreizt sich ein nackter Fuß. Geradezu butohesk ist er nach innen verbogen. Langsam und extrem angespannt wie unter spastischen Krämpfen arbeitet sich ein Bein hoch in die Luft. Langsam gerät der Körper der 1996 in Belgrad geborenen Tänzerin in Bewegung. Das Unerklärbare bricht schleichend aus ihr heraus und verwandelt sie in ein oszillierendes Wesen: getrieben, suchend – im Spannungsfeld von zwanghaften Stereotopyen, Wut, Trauer, Verzweiflung, Schuld, Ohnmacht, Hyperaktivität und Furcht bis hin zur Isolation. Die Glieder wollen ihr nicht mehr richtig gehorchen. Ihre Arme verdrehen sich auf die unnatürlichste Weise. Jovana Zelenović wird zum Vexierbild eines schweren Traumas. Sie ist nicht mehr Herrin über sich selbst und kippt seitlich vom Stuhl, was ihre Sitznachbarin in Bedrängnis bringt. Wie geht man um mit solchen Situationen?
Hilfesuchend blickt Zelenović das Publikum eindringlich an. Sie zittert und torkelt. Mal flattert ihre Hand, dann wirbeln ihre Ellbogen umher. In immer neuen, anders kompliziert in sich verzwirbelten Positionen sucht die Tänzerin Nähe und schreckt selbst wieder davor zurück. Ihr Bein schlängelt sich einer am Boden platzierten Zuschauerin in den Schoß. Energetische Schübe treiben sie regelrecht durch den Raum. Dazu ertönt nervöse Musik, die bisweilen wie rostige Wägen auf alten Schienen klingt (Benny Omerzell).
Orans Kreation ist ein Highlight zur Halbzeit des aktuellen Festivals. Auf unterhaltsame Leichtigkeit, mit der beispielsweise die Norwegerin Ingrid Berger Myrhe und ihre beiden Partnerinnen in „Spelling Spectacle“ hinzureißen versuchen, verzichtet Oran ganz bewusst. Jovana Zelenović tritt in Orans „Shard“ ohne Verkleidung auf. Als Mensch unter Menschen fällt sie schlicht und ganz realitätsnah jäh aus der Normalität.
Die Geschichte, die Zelenovićs stumm schreiender Köper erzählt ist voller unausgesprochener Details. Meist hält sie eine Ruhelosigkeit ohne Ziel auf Trab. Dazwischen entweicht ihr alle Kraft. Auf Seiten des Publikums wächst der Drang zu handeln. Sogar das setzt die seit langem in München beheimatete Choreografin Ceren Oran um. Erst robbt ein Mädchen hinein in den Kreis, gefolgt von einer älteren Frau. Dazwischen hockt Zelenović. Als nach und nach noch weitere Leute aufstehen, löst sich das Bild von drei weiblichen Altersstufen auf. Männer, Frauen und Kinder fassen sich an den Händen und formen leicht wippend ein Netz. Zelenović schmiegt sich kurz hier und dort an. Ihr Mäandern aber geht weiter – bis das Licht erlischt. Richtig gut so.
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