Dance First – Festival in Fürstenfeldbruck
Gelungener Spagat über Grenzen hinweg
Veritable (Wieder-)Entdeckung
Scheinbar liegen Welten zwischen John Neumeiers Ballett „Odyssee“ für das Hamburg Ballett und Bryan Arias’ Neukreation „Odyssey“, die Anfang Mai beim Saarländischen Staatsballett uraufgeführt wurde. In beiden Stücken kommen dennoch vergleichbare Passagen vor – insbesondere eine kollektive Bewegtheit von Figuren, die unter extremen Bedingungen miteinander verbunden sind. Hier wie dort ist der Erzählfluss abstrakt und das Assoziationspotenzial der eindrücklichen Szenenbilder unglaublich stark. Während Neumeier die Geschichte von Odysseus und seinen Abenteuern so emotional wie abstrahierend im Sinn von Homers Epos nacherzählt, geht sein zeitgenössisch geprägter, viel jüngerer Kollege Arias völlig anders – wesentlich individueller – an die thematische Vorlage heran. Was beide Stücke verbindet, ist eine dramaturgisch sehr offene Form: Wie ein unaufhaltsamer Strom fließt das Bühnengeschehen jeweils in einem Einheitsdekor dahin, in dem Charaktere einfach auftauchen und wieder verschwinden.
Neumeiers ursprünglich auf Einladung des Athener Kulturzentrums Megaron vor 29 Jahren zu einer Auftragskomposition von George Couroupos geschaffene „Odyssee“ war bei ihrer Rückkehr auf die Bühne der Hamburgischen Staatsoper eine veritable (Wieder-)Entdeckung – nach 20 Jahren Spielpause. Anlass war Neumeiers 85. Geburtstag im Februar dieses Jahres. Ohne irgendeine Patina angesetzt zu haben oder bloß auf archaisches Pathos zu vertrauen, wurde alles geboten, was ein Meisterwerk angesichts zahlreicher Herausforderungen für Solointerpret*innen und Ensemble auszeichnet. Inwieweit sich Brian Arias’ „Odyssey“ im Ballettrepertoire zu behaupten vermag, lässt sich schwer vorhersagen. Gewiss ist aber, dass die Einladung zum Festival „Dance First“ nach Fürstenfeldbruck ein Glücksfall war – auch wenn sich nicht alle im Publikum auf die Herausforderung einlassen wollten, sich aus dem tänzerisch fabelhaft Dargebotenen eigene Geschichten zusammenzureimen. Den Protagonist*innen war jedenfalls jede Sekunde anzumerken, wie sehr Arias mit ihnen an inneren Monologen gearbeitet hat, deren Inhalt sich – in Kombination mit dem jeweiligen Kostüm – rein körperlich-gefühlsmäßig vermittelt.
International avanciert
Die Einladung des Festivalleiters Heiner Brummel an das von dem Belgier Stijn Celis geleitete Saarländische Staatsballett war erfolgt, noch bevor die Kompanie das Stück in der kleineren Zweitspielstätte „Alte Feuerwache“ in Saarbrücken herausbringen konnte. Ein kuratorisches Risiko also, das sich – im Reigen des insgesamt international avancierten Gastspielprogramms – letztlich als völlig richtig erwies. Schon die Eröffnung – Maguy Marins wunderbare Beckett-Vertanzung „May B”, ein Signaturstück des französischen Tanztheaters aus dem Jahr 1981 – kam wunderbar spooky daher. Danach zeigte „IT Dansa“ – eine seit 1997 am Institut del Teatro Barcelona beheimatete und aus 18 jungen Stipendiat*innen bestehende Kompanie –, was der dort ganz gezielt in der Arbeit mit unterschiedlichen namhaften Choreograf*innen geförderte Nachwuchs drauf hat, wenn junge Tänzerinnen und Tänzer aus unterschiedlichen Ausbildungsrichtungen wie klassisches Ballett oder Flamenco über zwei Jahre lang gemeinsam trainieren. Im Gepäck hatten die jungen Powerperformer*innen „Kaash“ von Akram Khan, „Lo que no se ve“ von Gustavo Ramirez Sansano und Ohad Naharins stets mitreißendes „Minus 16“.
Dass bei „Dance First” auch die Junioren von nah und fern zum Zug kommen, ist ein schöner und wichtiger Bestandteil. Den kürzesten Anreiseweg zum traditionell alle zwei Jahre in Fürstenfeldbruck stattfindenden Tanzfestival hat das Bayerische Junior Ballett München. Deren Auftritt am 25. Juni mit Neumeiers getanzter Version von Bachs „Suite No. 3“, Eric Gauthiers fulminanter jüngster Kreation für das kleine Ensemble zu Mussorgskis musikalischem Hexensabbat „Eine Nacht auf dem kahlen Berge“, Mahlers „Lieder eines fahrenden Gesellen“ in der Choreografie von Jiri Kylian und mit Marco Goeckes „All Long Dem Day“ trug den Titel „Liebesbotschaften“. Dem Publikum bot sich bei diesem klassisch-modernen XXL-Abend dank bestens aufgelegter Interpret*innen die Chance, vier verschiedene Handschriften gleich mehrerer Choreografen-Generationen kennenzulernen.
Interstellare Zukunft
Wie Goecke und Gauthier (toller Einfall, die neoklassisch auf Spitze agierenden Tänzerinnen den Berg aus Pappmaschee-Felsbrocken zusammenpuzzeln zu lassen!) zählt auch der aus Puerto Rico stammende New Yorker Brian Arias zu den choreografischen Erneuerern. Auf die symbolhafte Sinnlichkeit ihrer Erzählweise und den Duktus ihrer Bewegungssprache muss man sich schlicht einlassen. So hat sich Arias für sein erstes Stück am Saarländischen Staatstheater gleich von zwei Werken inspirieren lassen: Homers Epos „Odyssee“ und Stanley Kubricks Film „2001: Odyssee im Weltraum”. Das erklärt auch die Astronauten am Ende seines 70-Minüters, der – akustisch eingehüllt in einen unheimlichen, vorwiegend dumpf-elektronischen Klangteppich – einer Odyssee durch Raum und Zeit, von der Antike bis in eine interstellare Zukunft gleicht.
Arias Odysseus ist ein alter Mann mit Hut. Als einziger Charakter vermag er zwischen den Zeitebenen zu wandeln. Einigen Figuren, denen er dabei begegnet, hilft er, aus ihrer Verlorenheit zu entkommen. Da ist zum Beispiel der im Universum herumirrende Soldat, dem er einen Spielzeugflieger schenkt. Später erlöst er eine junge Frau im Charlestonkleid von ihrem Trauma eines leblos-leeren Goldfischglases. Seine eigene Reise scheint bereits eine Ewigkeit zurückzuliegen. Dennoch treibt ihn etwas stetig weiter um. Der Grund mag Erinnerung sein – oder die Sehnsucht, das Geheimnis des Seins zu ergründen. Denn was Arias wundervoll aufzuzeigen gelingt, ist, dass das Leben eines jeden Menschen eine von Entscheidungen beeinflusste Reise ist. Der, der Odysseus zu sein scheint, ist von Beginn an auf der dunklen Bühne präsent. Im Hintergrund ist eine Ruinenlandschaft zu erkennen. Vor einer Art Grottenwand schaltet der Tänzer ein rundes Licht an. Es entpuppt sich als mondartiger Lampion, der bald wie frei im Raum schwebt.
Götter existieren hier nicht. Dafür lockt das Licht eine bunte Schar Individuen an. Man hält sich an den Händen, bis die Gruppe unter Donnergrollen versprengt wird und alle im Nebel verschwinden. Die himmlische Arena im Nirgendwo ist frei für solistische Statements wie das eines seiner Aufgabe nicht mehr sicheren Legionärs, die Verzweiflung und Selbstbefragung einer jungen Braut respektive eines Papstes (dem plötzlich aus dem Off Stimmen entgegen hallen) oder die Suche nach paarweisem Zusammenhalt. Spekulation bleibt, wen der lorbeerbekränzte Mann und die ihm zugetane Frau in altrömischer Tunika widerspiegeln sollen.
Das tragisch-unschlüssig dahintreibende barocke Paar unter seinen gepuderten Perücken lässt an Figuren wie Manon Lescaut und deren unglücklichen Geliebten Des Grieux denken. Ebenso weiß man nie genau, ob Arias eher einen Totentanz im Sinn hatte oder eine aus dem Mythos entwickelte visionäre Fiktion, Menschen würden sich irgendwann ihrer Fehler und somit auch der Anlässe zu Irrfahrten entledigen. Zum Schluss treffen vier Kosmonauten auf ein Geschöpf im hautengen, goldenen Trikot: eine Art überirdische Coppélia, die mit Hilfe der Männer, die sich aus ihren Schutzanzügen schälen, nach und nach ihren Körper mittels Tanz entdeckt. Odysseus übernimmt die Rolle des Partners. Seine Suche ist zu Ende. Gemeinsam tanzen sie ein finales Duett.
Feuerwerk zum Abschluss
Mit einem beeindruckenden Feuerwerk eher kurzer zeitgenössischer Einstudierungen beendete das Kroatische Nationalballett Rijeka mit seinem Vierteiler „Transparada“ das Fürstenfeldbrucker Tanzfestival 2024. Im Mittelpunkt stand einmal mehr das Miteinander und ein Lebensgefühl voller Energetik – was bei Choreografen wie Nadev Zelner, der wie Ohand Naharin aus Israel kommt, bisweilen nah an der Grenze zu einer herrlich ausgeflippten Form von Wahnsinn liegt. Nur zehn Minuten dauert Zelners irrer (Liebes-)Trip „Medium Rare“ für zehn entfesselte Tänzerinnen und Tänzer. Am Boden liegt ein flauschiger Teppich, den das Licht von Zeit zu Zeit saftig rot erstrahlen lässt. Die Musik rockt. Und damit der Spaßfaktor bei den Zuschauern nicht verloren geht, tobt in den Körpern mehr als bloße Lust. Diesem perfekten Rausschmeißer war ein Ausschnitt aus Marco Goeckes „Feuervogel” vorangegangen. Michele Pastorini und Valentin Choe interpretierten ein Duett, das erstmals 2015 bei einer Gala in Dortmund von zwei Männern getanzt wurde, mit dynamischer Raffinesse.
Die kroatische Hafenstadt Rijeka mag nicht zu den Hochburgen des Balletts zählen, unter Leitung von Masa Kolar weiß man sich dort allerdings bestens auf zeitgenössischem Terrain zu behaupten. Im ersten Teil des Abends stellte die Tanzchefin ihre eigene Version von Strawinskys „Le Sacre du Printemps“ vor. Anders als Goecke, der durch eine präzise Akzentuierung der Musik durch Bewegung seine Interpret*innen scheinbar immer wieder zum emotionalen Explodieren respektive Implodieren bringt, hält Kolar ihre Tänzerinnen und Tänzer in einer bizarren, höchst kontrollierten Manier teils recht eckiger Schrittkombinationen wie gefangen. Ihr geht es um den Umgang mit der Natur. Die Erde ist das zentrale Element, um das sich choreografisch ihre Formationen ranken. Ihr „Sacre“ gipfelt nicht in einem Auspowern bis zur Erschöpfung, sondern wird von einem Tänzer beendet, der nicht zum Opfer wird und resolut die Oberhand behält.
Mauro Bigonzettis kurzes Impromtu „Rossini Card“ toppt bildlich alles. Zur Musik des kochbegeisterten Belcanto-Komponisten versammelt Bigonzetti das Ensemble um einen festlich gedeckten Tisch. Es folgt ein Tanz, bei dem Beine kaum eine Rolle spielen. Nur einmal fahren alle wie von Wespen gestochen auf, um sich stehend mit Blicken zu fixieren. Der Rest ist pure Operkörper-Expressivität – synchron im Rechteck: sprechende Arme und Hände, die ornamental auch mal an Schultern und Köpfen der Nachbarn andocken. Das Publikum bleibt bei dieser kuriosen, geschlossenen Tischgesellschaft außen vor und darf nur aus der Ferne zusehen. Humorvolle Hintergründigkeit, die funktioniert wie ein gut geschmiertes Perpetuum Mobile. Schön, wenn zeitgenössischer Tanz auch solch beglückende Momente bereithält!
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