Von Lynn Helen Kuhfuß
Ein Diphthong ist ein aus zwei Vokalen gebildeter Laut, ein Doppellaut, ein Doppelvokal. Und so treten bei der Premiere von „fem:me“, der neusten Produktion des Kollektiv Diphthong in der Alten Feuerwache Köln zwei literarische, weibliche Stimmen gemeinsam auf. In „fem:me“ begegnen sich Pucki und Annie Ernaux: Die eine entstammt der gleichnamigen Jugendbuchreihe von Margarethe Trott, die von 1935-1941 ein Frauenleben entlang der Stationen Mädchen, Braut, Mutter und Hausfrau erzählt. Ernaux hingegen, Jahrgang 1940, seziert in ihren stets autobiografischen Werken verdichtet und präzise die tiefen, oft schmerzhaften Erfahrungen ihrer Vergangenheit und kritisiert gesellschaftliche Machtverhältnisse besonders im Hinblick auf die Rolle der Frau. Der Doppellaut, der sich beim Aufeinandertreffen der beiden bildet, ist nicht harmonisch, sondern klingt in einer Tonart an, die zum Nachdenken anregen soll.
„Was soll ich anziehen? Was soll ich kochen?“
Der Raum ist von einem weißen Fransenvorhang durchtrennt. Hinter ihm erscheint Nataliia Bulatova in einem rosa karierten, knielangen Kleid (Kostümbild: Lilli Manz, Bühnenbild: Eleonora Pedretti). Sie legt sich auf den Boden, auf den Vorhang werden Google-Bewertungen für die Pucki-Bücher abgetippt und projiziert. „Das bisschen Haushalt macht sich von allein, sagt mein Mann“, singt Johanna von Koczian in einem Schlager von 1977. Bulatova verkörpert Erinnerungen, Erwartungshaltungen und Erfahrungen. Ihre Bewegungen wirken forciert, ihr Lächeln maximal breit, dabei maximal freundlich. Auf dem Vorhang erscheinen Werbungen aus der Mitte des letzten Jahrhunderts. Sie reduzieren Frauen auf die beiden Fragen: „Was soll ich anziehen?“ und „Was soll ich kochen?“. Performt Bulatova ein bestimmtes Rollenbild der Hausfrau in den 50er Jahren? Dazu spricht eine Stimme aus dem Off: Pucki.
Widersprüchliche Erwartungen
Präzise Bewegungszitate von Backen, Kochen und Putzen in der Choreografie, eng verflochten mit Video und Text, fügen sich zusammen und vermitteln, wenn sie aus gegenwärtiger Sicht auf die vergangenen Rollenverständnisse von Frauen in der Gesellschaft schauen, ein Gefühl von Beklemmung und Belustigung. Die Texte aus Trotts Büchern und die nostalgisch wirkenden Werbebilder überlagern sich und werden so wechselseitig zu Kommentaren weiblicher Rollenstereotypen und sozialer Normen ihrer Zeiten. In die alten Clips mischen sich bald erschreckend ähnliche Filme von heute. Die in den Romanen suggerierte Leichtigkeit des Hausfrauenlebens, die sich in den Bewegungen Bulatovas fortsetzt, wird eintönig. So als würde Pucki sich aus den widersprüchlichen Erwartungen an die gute, brave Hausfrau herausschälen, legt sie ihre Schürze ab, dann das Kleid.
Wie in einem Kokon
Der zweite Diphtong-Vokal, die zweite Stimme erscheint: In Tagebuchauszügen und Kalendereintragungen schildert Annie Ernaux ihre im Jahr 1963 strafbare Abtreibung. Bulatova, nun in beige-farbener Leggings und Top – vielleicht ein Ausdruck von Emanzipation – lässt ihre Verzweiflung und ihren psychischen sowie physischen Schmerz performativ entstehen. Auf dem Boden hockend, bilden ihre Arme immer wieder ein „X“ wie zur Abwehr oder zum Schutz. „Das Ding muss weg“, sagt die Stimme. Worte, die nachhallen …
Wieder flimmern Projektionen über den Fransenvorhang. Im Video bewegt sich die Tänzerin sanft in einem dünnen, weißen Tuch wie in einem Kokon. Traumatische Erlebnisse füllen den Raum. Plötzlich dann das Ende, knapp und vielleicht etwas plakativ: Bulatova summt die eben verklungene Melodie von „Sometimes I Feel Like a Motherless Child“ weiter. Sie hebt ihre Hand zum Salem-Gruß, zur erhobenen Faust, klopft sich auf die Brust und spricht in ein Megafon, im Hintergrund Aufnahmen von Demonstrationen. Die Gesten und Bilder von Auflehnung und Widerstand, Empörung und Aktivismus lassen mit ihrer klischeehaften Symbolik die Schlussszene an der Oberfläche bleiben.
(Rollen)Bilder neu interpretiert
Das schmälert nicht, was der Inszenierung gelingt: Indem sich die Zitate und Texte der Audioeinspielung (Lisa Reutelszerz) differenziert mit der körperlichen Performance verschränken, entsteht eine schlüssige, dabei erwartbare Szenencollage aus Text, Bild und Bewegung. Sie beleuchtet nicht nur Wertvorstellungen Anfang des 20. Jahrhunderts, sondern auch rigide Abtreibungsgesetze, die in vielen Staaten bis heute gelten und das Leben von Frauen prägen. Das Publikum entdeckt und interpretiert die Bedeutung dieser Themen von heute aus neu. Der in „fem:me“ nur auf den ersten Blick auf die Vergangenheit gerichtete Fokus erfasst so auch Gegenwart und Zukunft und setzt ein spannendes und wichtiges Zeichen für den Ausbruch aus (zu) engen weiblichen Rollenbildern.
Dieser Text entstand im Rahmen des Projekts „Bewegungsmelder – Nachwuchswerkstatt für Tanzjournalismus aus NRW“, einer Kooperation von tanznetz mit dem Masterstudiengang Tanzwissenschaft des Zentrums für Zeitgenössischen Tanz (ZZT) an der Hochschule für Musik und Tanz Köln und dem nrw landesbuero tanz.
Kommentare
Noch keine Beiträge
Please login to post comments