„History is Mostly Made of Flesh” von Frédérick Gravel, Tanz: Lin van Kaam und Ensemble

Bunt, schrill, bewegend

Fréderérick Gravel choreografiert in Mainz „History is Mostly Made of Flesh”

Gravel erzählt eine unkontrollierbare Geschichte und begeistert das Publikum mit opulenten Bildern.

Mainz, 10/11/2024

Ein kleines Gedankenexperiment: Wenn man den vierzehn Tänzer*innen der Kompanie tanzmainz freie Auswahl im Theaterfundus, in einem Second-Hand-Shop für Vintage Kleidung und bei einem Herrenausstatter ließe – dann kämen vielleicht solche fantastischen Outfits zustande wie im neuen Tanzabend. Aber natürlich war es nicht so, ganz im Gegenteil. Nichts an diesen Kostümen, die an eine rauschhafte Weiterführung von Vivian Westwoods revolutionärer Kombination historischer Kostüme mit rebellischem Punk erinnern, ist dem Zufall überlassen.

Die hauseigene Mainzer Kostümbildnerin Viktoria Schrott hat ein dreiviertel Jahr Arbeit in die Ausstattung für den neuen Tanzabend „History is Mostly Made of Flesh“ gesteckt und individuell zugeschnittene, raffiniert genderfluide Outfits kreiert. Damit am Ende die Haut unter den phantastischen Verkleidungen sichtbar werden kann, lassen sich Tüll und Spitze, zweckentfremdete Krawatten, Sakkos und Herrenhemden, Westen, Schnürmieder, Gürtel und Schuhwerk (von High Heels auf Plateausohlen über Cowboystiefel bis zu Leo-Sneakern) Schicht für Schicht ablegen.

Der Kanadier Frédérick Gravel gilt als intellektuelles Allround-Talent in der internationalen Tanzszene: Er kann nicht nur Tanz, Choreografie, Lichtdesign, Rock- und Popmusik, Text und Performance, sondern auch überzeugend reflektieren. Für sein jüngstes Stück ging er zusammen mit der Kompanie tanzmainz ebenso systematisch wie sinnlich der Behauptung auf den Grund „History is Mostly Made of Flesh“. Für Choreografie und Lichtdesign zeichnet er selbst verantwortlich; den hypnotischen, stark rhythmischen Minimal-Sound hat er sich vom kanadischen, experimentellen Singer-Songwriter Tomas Furey aufs Wirkungsvollste komponieren lassen.

Großes Tanzkino

Auf leerer Bühne posieren die bunten Gestalten, bis sie in Tableaus um eine Führerfigur einfrieren. Aber keinem der Beteiligten scheint wohl dabei zu sein – zu schnell wechseln die Rollen, zu schnell dreht sich das Rad der Geschichte. Die Tänzer*innnen   ausnahmslos während der gesamten 55 Minuten lang auf der Bühne – werden vom sich steigernden Soundtrack kontinuierlich angetrieben. Ordentlich aufgereiht, wie ferngesteuerte Puppen schieben sie sich in artiger Pose seitwärts, den Blick fragend ins Publikum gerichtet. Dann brechen Einzelne brechen aus, rennen quer durch die Reihen, ziehen das Tempo an und legen nach und nach die extraordinären Umhüllungen ab.

Ganz am Ende finden sich Paare, zeigen sich tiefe Emotionen. Wie sich die Partner aufeinander einlassen, ihre Bewegungen anpassen, widerspiegeln und synchronisieren – das ist großes Tanzkino. Frédérick Gravel setzt auf ein reduziertes Bewegungsmaterial, auf Laufen in allen denkbaren Stilen, tiefe Ausfallschritte, hypnotisches Wippen; zuletzt auf wogende Wellenbewegungen, von denen die Körper scheinbar widerstandslos erfasst werden.Die Hebefiguren im Finale, aller üblichen Ballett-Eleganz entkleidet, machen sichtbar, was es heißen kann, sein Gegenüber ganz buchstäblich zu tragen.

Ob man den Zweierbündnissen, selbst wenn sie gängige Paarkonstellationen überraschend unterlaufen, als Ankermöglichkeiten in der unkontrollierbaren Geschichte trauen mag oder nicht – dieser eigenwillige, vom Publikum umjubelte Tanzabend mit seinen opulenten, bedeutsamen Bildern hat das Zeug, im Gedächtnis zu bleiben.

 

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