„Vincent“ von Jörg Mannes, Tanz: Joshua Hunt

Im Wind wiegende Dämonen

„Vincent“ von Jörg Mannes mit dem Ballett Magdeburg sucht und findet Bilder für das Leben und die Kunst Vincent van Goghs

Das Leben und den Geist von Vincent van Gogh bringt Jörg Mannes in Magdeburg auf die große Opernbühne - zusammen mit Musik aus 100 Jahren. Ein Kampf zwischen bunt und schwarz.

Magdeburg, 04/10/2024

Es dauert bis zum Ende bis endlich auch die ikonischen Sonnenblumen auftauchen, die neben dem blau kreiselnden Sternenhimmel wohl Vincent van Goghs bekanntestes Werk darstellen. Fast zwei Stunden (inklusive einer Pause) nimmt sich Jörg Mannes, Ballettdirektor am Theater Magdeburg, Zeit, um sich dem Leben und Werk des Ausnahmekünstlers in neun Szenen anzunähern. Dabei verzichtet er zwar auf eine allzu biografische Nacherzählung, führt aber doch über die Lebenstationen des Malers durch den Abend.

Allerdings gibt es keine klare Figur des van Gogh, sondern jeder im Ensemble ist irgendwie van Gogh, gleichwohl Joshua Hunt, Marco Marangio und Joel Dettori in ihren jeweiligen Szenen deutlich hervorstechen. Klar markiert sind zudem durch farbige Kostüme Gennaro Chianese als Bruder Theo und Ghabriel Gomes als Paul Gauguin in einer hochdramatischen Szene um das Künstlerhaus in Arles, wo beide kurzzeitig zusammen lebten. Mannes stellt diese beziehungsstarken Duette zwischen den Männern, aber auch mit den Frauen (hier: Aurora Conte, Chiara Amato und Fiammetta Gotta) in einen größeren Kontext.

Jeder ist van Gogh

Auch die anderen Ensemblemitglieder treten in den weißen Kostümen als van Goghs Alter Egos oder Gedanken auf, bevölkern die Bühne und multiplizieren den Künstler in diesem Bühnensternenhimmel, mit dem Bühnenbildner Florian Parbs von Anfang an die Stimmung des weiten schwingenden Raumes setzt. Sie fluten die Bühne als weiße Geister oder auch als schwarze Dämonen, wenn die dunkle Seite der Künstlerseele gegen Ende mehr und mehr die Oberhand gewinnt.

Mannes verzichtet in seinen Gruppenchoreografien bewusst auf klare, genau gesetzte chorische Bewegungen. Vielmehr verhalten sich seine Tanzenden wie die Pinselstriche des Meisters, wie eine wiegende Landschaft im Wind. Alles bewegt sich gleichartig, aber mal hier etwas anders, mal dort früher, mal dort später in einer Form der organisierten Unruhe. Aufgänge und Abgänge sind dynamisch, leere Bühne, volle Bühne, das alles kann sich im Sekundentakt ändern.

Die Musikauswahl immerhin umfasst ein ganzes Jahrhundert, darunter Bekanntes wie der „Danse Macabre“ von Camille Saint-Saëns, aber auch seltener Gespieltes wie Charles Ives’ „Auf der Suche nach sich selbst“, das mit seinen überraschenden Setzungen diesen Bilderreigen um Vincent van Gogh eröffnet. Die musikalische Leitung über die Magdeburgische Philharmonie hat Kapellmeister Svetoslav Borisov inne. 

Die Innenwelt des Künstlers überschwemmt die Außenwelt. Die Kunst kommt dabei nur selten in Form von Bilderzitaten auf die Bühne. Mit einer glorreichen Ausnahme zu Beginn im zweiten Bild. Zum „Valse triste“ von Jean Sibelius schweben drei Hängeleuchten vom Schnürboden, unter denen sich graue Gestalten wie aus dem Bild der „Kartoffelesser“ versammeln. Mit ihrem Stampfen und schwergängigen Bewegungen erscheint der leichtfüßige Vincent sofort als Außenseiter und wird von ihnen verfolgt und ausgestoßen. Ansonsten wird die Kunst eher symbolisch gegriffen. In einer Ecke hängt eine große Leuchte mit Sonnenblumenanmutung; die Company bewegt sich mit bunt leuchtenden Farbstäben über die ansonsten dunkle Bühne oder tanzt hinter großen transparenten Farbflächen. Zum Ende des ersten Teils stürzen gar tausende kleine Farbkörper aus dem Bühnenhimmel, während Joshua Hunt auf einem großen fahrbaren Gerüst herumturnt. Malen als Farbextase.

Erst Farben, dann Düsternis

Die zweite Hälfte ist dann deutlich düsterer, aber auch klarer handlungsorientiert, wenn die dunklen Dämonengestalten um Vincent herumtanzen und sein Ohr schließlich – angedeutet durch weißen Staub an den Händen – gehen muss.

So changiert der Abend zwischen Konkretem und Abstrakten und findet insgesamt eine gute Balance. Immer wieder findet Mannes überzeugende Bilder mit seinem Ensemble und transportiert eine raue Energie über die Bühnenrampe. Auch die hyperrealistischen gigantischen Sonnenblumen am Ende passen sich gut ein in dieses dämonisch-menschliche Spiel. Diese allerdings gehen dann über in einen digitalen Flug über ein animiertes Sonnenblumenfeld gen Himmel (Animationen: Philipp Contag-Lada). Dafür müssen dann sogar die Sterne weichen, während Vincent alleine und verlassen auf der Bühne liegen bleibt.

 

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