Raus aus der Komfortzone
Mit Marcos Moraus „Overture“ und Crystal Pites „Angel’s Atlas“ zeigt das Staatsballett Berlin zwei wichtige zeitgenössische Stimmen
Marcos Morau gilt als choreografischer Shootingstar der letzten Jahre und das zurecht, wie er soeben mit der Uraufführung von „Overture“ am Staatsballett Berlin beweist. Das Stück markiert den Beginn einer dreijährigen Zusammenarbeit. Düster ist der Anfang zum I. Satz von Gustav Mahlers Sinfonie Nr. 5, der mit „Trauermarsch“ betitelt ist. Nur schwer sind die Tänzer*innen in ihren hautfarbenen Pants und Shirts, manche Tänzer auch mit nacktem Oberkörper, auszumachen. Sie scharen sich um eine liegende dorische Säule. Wer aus dieser Gruppe ausbricht wird schnell wieder zurückgeholt. Man bekommt den Eindruck, dass diese Säule Halt und Sicherheit verspricht, dort ist die Komfortzone, in der man weiß, was passiert. Doch gegen Ende dieses Satzes passiert das Unvorstellbare, die Tänzer*innen entscheiden sich, die Säule aufzustellen. Weitere Säulen schweben herab und man wähnt sich nun in einem Tempel. Musikalisch folgt nun der IV. Satz, das bekannte Adagietto. Dabei hebt sich auch die Stimmung, denn ein einzelner Tänzer aus der anfänglichen Gruppe trifft nun auf eine junge Frau, die voller Lebenslust zu sein scheint. Bald kommen ihre Freund*innen hinzu. Zwischen den Säulen wird Fangen und Verstecken gespielt. Eine befreite Aufbruchslust ist erkennbar.
Tradition trifft auf Moderne
Als eine zweite Gruppe hinzukommt, herrscht anfangs Ablehnung, doch schlägt diese bald in Neugier und auch Freundlichkeit um. Langsam beginnen sich die beiden Gruppen zu mischen. Dies merkt man an den Kostümen von Silvia Delagneau. Ist die erste Gruppe noch in folkloristisch angehauchten Röcken, bestickten Blusen und Westen unterwegs, so ist die zweite in Hosen und Blousons gekleidet. Im Verlauf werden Kleidungsstücke ausgetauscht: ein schönes Bild dafür, dass Tradition und Moderne einander befruchten können. Als der V. Satz beginnt, hat man das Gefühl, dass nun Einigkeit herrscht. Ein Teil der Säulen verschwindet, eine sich drehende Plattform wird im Bühnenhintergrund erkennbar. Scheinbar wird nun diese der sichere Hafen. Aber ein sicherer Hafen kann auch wieder wenig Lust auf Veränderung bedeuten. Es kommt sogar gegen Ende zu einem scheinbaren Rückschritt, denn die liegende Säule wird wieder hereingeschoben. Doch die Menschen haben sich verändert, das ist auch an der Bewegungssprache erkennbar, und die Säule wird wieder aufgestellt.
Choreografisch ist es Morau gelungen, für jeden Teil bzw. jede Gruppe eine eigene Bewegungssprache zu kreieren. Anfangs sind die Bewegungen sehr kantig, wirken in die Körper der Tänzer*innen zurückgezogen, nur selten streckt sich jemand, geht ein Arm oder Bein in den Raum hinein. Im mittleren Teil wird viel gelaufen, der ganze Raum wird genützt, man merkt richtig die Freude des Aufbruchs. Gegen Ende ziehen sich die Tänzer*innen wieder mehr in sich zurück, doch man merkt, dass eine Veränderung stattgefunden hat. Faszinierend ist, wie leicht synchrone Teile in asynchrone übergehen, sich plötzlich ein Bewegungsmotiv wellenförmig durch die Gruppe fortpflanzt bevor wieder zur Synchronität gefunden wird. Mahlers Musik, mit viel Verve von der Staatskapelle Berlin unter Marius Stravinsky interpretiert, ist Inspirationsquelle, die respektiert aber nicht eins zu eins in Schritte umgesetzt wird. Gemeinsam mit seinem Dramaturgen Israel Solà ist es Morau gelungen, seine Ideen und Gedanken nachvollziehbar auf die Bühne zu bringen.
Emotionen an die Oberfläche
Für Crystal Pite ist die Lichtidee ihres Partners und Bühnenbildners Jay Gower Taylor Inspirationsquelle für „Angel’s Atlas“ gewesen, das im Februar 2020 beim National Ballet of Canada zur Uraufführung kam. Taylor entwickelte ein System, reflektiertes Licht zu manipulieren, und mit dem Lichtdesigner Tom Visser bringt er Licht in unzähligen Möglichkeiten auf eine Oberfläche. Entstanden ist so ein „Reflective Light Backdrop“, auf dem mit Licht „gemalt“ wird und der sich ständig verändert. Pite geht es um tiefliegende Emotionen, die sie an die Oberfläche bringen will. Man sieht Vertrauen, Liebe aber auch Ablehnung. Der Tanz steht im Vordergrund, große Ensembleszenen wechseln sich mit intimen Duos ab. Ihre Bewegungssprache ist raumgreifend, teilweise wirkt ihre Choreografie meditativ zur Komposition von Owen Belton, ergänzt durch zwei Chorwerke von Peter I. Tschaikowsky und Morten Johannes Lauridsen.
Die beiden doch sehr unterschiedlichen Stücke ergänzen an diesem Abend einander perfekt. Gemeinsam ist ihnen, dass beide, Choreograf und Choreografin, mit großem Ensemble arbeiten können. So stehen bei Morau 38 und bei Pite 44 Tänzer*innen auf der Bühne. Standing Ovation für das ausgezeichnete Ensemble und das künstlerische Team.
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