Der Hoodie als Ausweg
„Synapsen” in der Choreografie von Julia Mota Carvalho und Marcela Ruiz Quintero im COMEDIA Theater Köln
Von Swantje Kawecki
Nicht erst auf der Bühne herrscht ein Durcheinander: Schon im Vorraum des Theaters wartet ein Tisch mit bunten Socken, Lichterketten, einem dünnen roten Seil, wellenförmigen Platten aus Plastik verschiedener Größen und Oberflächenstruktur, dazu kollagenartig angeordnete Zeichnungen auf einem DINA3 Papier. Und viele Aufforderungen, Fragen und Kommentare: „Wie sieht es in deinem Gehirn aus? BRAIN UNDER CONSTRUCTION, ->Finde ein passendes Sockenpaar.“
Daneben ein Schild: „TOUCHABLE Bühnenbildelemente Gerne Berühren Synapsen“. Eine Einladung, unsere kinästhetischen Sinneswahrnehmungen für das Bühnengeschehen zu sensibilisieren und gleichzeitig Neugierde zu wecken.
In der neuen Tanzproduktion „Synapsen“ des COMEDIA Theaters Köln, koproduziert mit performing:group und choreografiert von Julia Mota Carvalho und Marcela Ruiz, nehmen die drei Tänzer*innen Nona Munnix, Viktoria Lesch und YeoJin Kim das Publikum mit auf die Achterbahnfahrt des Teenagerseins. Dabei bringen sie so manche vielleicht schon vergessene Herausforderung dieser Phase zurück ins Gedächtnis.
Paralleluniversum Teenagerdasein
Im Zuschauerraum sehen wir uns einer Wand aus milchigem Plastik mit wellenartiger Oberflächenstruktur gegenüber, deren kantige Formen an eine Burgmauer mit zwei Türmen erinnern. Dicke Streifen markieren an den Kanten die Ränder und zeigen, wo die einzelnen Teile baukastenartig ineinandergesteckt sind. Dahinter erscheinen schemenhafte Körper, die vor und zurück laufen und doch nie richtig zu erkennen sind. Waberndes blaues Licht, eine immer wieder abbrechenden Stimme aus dem Off und knackende Geräusche, als würde die Verbindung immer wieder abbrechen, lassen das Gefühl einer Paralleldimension entstehen.
Energetisch durchbrechen die drei Tänzer*innen die Mauer. Sie formieren sich in Standbildern aus akrobatischen Elementen, wobei sie sich über- und umeinander positionieren. Der Rücken der einen bietet die Standfläche für eine andere, die wie eine Superheldin mit entschlossener Körperhaltung ins Publikum schaut. Die Dritte steht wie eine Kampfkünstler*in dicht daneben. Das Teenagerdasein erfordert Heldenmut und Kampfbereitschaft.
Die poppige Musik und Kostüme aus farbigen Leggins, T-Shirts und bunten Socken brechen mit dem anfänglichen Ernst der Haltungen und lassen die Tänzer*innen jugendlich, nahbar erscheinen. Plötzlich blitzen weiße Deckenlichter wie Stromschläge über der Mitte der Bühne. Ein Gefühl von Chaos stellt sich ein: Die Achterbahnfahrt des Erwachsenwerdens beginnt. Es kommt zur Konfrontation mit dem eigenen sich verändernden Körper, gefolgt vom Bewusstsein, auf der Suche nach dem eigenen Platz im Gefüge der Gesellschaft zu sein. Die Tänzer*innen laufen durch die Reihen, erzählen von ihren Erfahrungen. Sie stehen dabei direkt vor einzelnen Zuschauer*innen, schauen ihnen in die Augen, konfrontieren.
LOL, Pizza, Yummy und ein kleines bisschen fck off!
Das Bühnenbild wird wie Schultische oder Toilettenkabinen mit Eddings beschrieben und bemalt: Synapsen Terror, Brain, AKTIONS, POTENTIAL, Körperumrisse. Kommentare, Gedanken, die Raum einfordern und dabei helfen, Erlebtes zu sortieren. Wie in einem zu schnell gewachsenen Körper bewegt sich eine Tänzer*in in der Bühnenmitte, unbeholfen und ohne Rücksicht auf umstürzende Bühnenteile. Immer wieder stellen die anderen beiden sie wieder auf, nur damit sie erneut fällt. Der Versuch der Schadensbegrenzung endet mit einer leeren Fläche um den tanzenden Körper.
Selbstschutz? Schützen der Umgebung? Nicht richtig wissen, was gerade passiert. Sich ausgeliefert fühlen, in sich selbst verknotet. Ein möglicher Ausweg führt in „Synapsen“ hinein in einen viel zu großen grauen Hoodie: Kapuze auf, mit sich selbst sein, allein sein, sich ablenken, etwas tun, um etwas zu tun. Kein Bock auf nichts! Alles ist zu anstrengend, jede Bewegung frustrierend. Das Fass läuft über, der Kragen platzt, aus der Maus wird ein Elefant: Wut, Metal Musik und eskalierende Körper.
Dann plötzlich wieder ein Stimmungswechsel: Die Tänzer*innen sitzen auf dem Boden, teilen sich rote Kopfhörer, reichen sie einander weiter. Klassische Musik wird gespielt. Die Szene der Superheld*innen-Standbilder wiederholt sich. Aus einer Kollage von Gesten, die auch Emojis aus Social Media verkörpern könnten, wird ein Tanz wie aus einem TikTok Video samt in die Luft gemalter Herzen, die die Zuschauenden Schmunzeln lassen.
Zwischen dem Erleben von Körperveränderung, Langeweile, Drama, Null Bock, von Überforderung und Zusammenhalt, gelingt es den Choreograf*innen, die sich verwirrend schnell verändernden Gemütszustände dieser Lebensphase in Szene zu setzen. Dabei spielen Carvalho und Ruiz nicht nur mit geschriebener und gesprochener Sprache, sondern auch mit einem Mix aus Popmusik, Metal, Klassik und Oldies, der die Tänzer*innen durch die mal theatralen, mal tänzerischen Szenen begleitet. Die Verwendung von Jugendsprache und Emojis wie die gesamte Bildsprache machen „Synapsen“ besonders zugänglich für junges Publikum. Gleichzeitig ist es aber auch ein Leichtes, sich als ältere Person wiederzufinden – vielleicht aus der Perspektive des Eltern- oder Großelternseins, oder in der Begegnung mit persönlichen Erinnerungen. Am Ende gibt es verdientermaßen lange anhaltenden Applaus.
Dieser Text entstand im Rahmen des Projekts „Bewegungsmelder – Nachwuchswerkstatt für Tanzjournalismus aus NRW“, einer Kooperation von tanznetz mit dem Masterstudiengang Tanzwissenschaft des Zentrums für Zeitgenössischen Tanz (ZZT) an der Hochschule für Musik und Tanz Köln und dem nrw landesbuero tanz.
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