„A very Eye“ von Tumbleweed

Wenn Einzelne zu Vielen werden

„A very Eye“ der Tanzcompany Tumbleweed in der Heidelberger Hebelhalle

Bewegung in der Gruppe oder Wie man auf hohem Niveau choreografisch arbeitet

Heidelberg, 15/10/2024

Vögel und Fische können etwas, um das sie von Menschen beneidet werden: Schwärme bilden. Hunderte, manchmal Tausende Individuen organisieren sich dabei ganz ohne Kommando in gemeinsamer Bewegung, die trotzdem jedem Einzelnen Raum lässt. Menschen reklamieren inzwischen die Fähigkeit zur Schwarmintelligenz für sich, aber wenn es um körperliche Bewegung im realen Raum geht, ist die Gruppenbildung weitaus holpriger als im Tierreich.

Tanzschaffende haben vielfach versucht, Menschenschwärme mit den Mitteln des Tanzes zu kreieren. Ein weit verbreiteter Ansatz setzt dabei auf Intuition, zum Beispiel mit Hilfe von intensiver Kontakt-Improvisation, bei der sich alle nach den gleichen möglichst wenigen Spielregeln richten. Die belgische Tanzcompanie Tumbleweed, entstanden aus der Zusammenarbeit zwischen der Schweizer Tänzerin und Choreografin Angela Rabaglio mit dem französischen Tänzer und Musiker Micaël Florentz, legt ihrem Stück „A very Eye“ einen gegensätzlichen Ansatz zugrunde: eine minutiös geplante und raffiniert aufgebaute Studie der Entstehung einer Gruppe durch gemeinsame Bewegung.

Socken für das Publikum

Dafür haben sich die Beiden sehr viel Zeit gelassen, nicht ganz freiwillig. Die ersten Ansätze des Stücks wurden vor vier Jahren bei einer Residenz im Heidelberger Choreografischen Centrum (CC) erarbeitet – und wurden jetzt im Rahmen der Gastspielreihe D-Dance in der Hebelhalle präsentiert. Dieses Mini-Festival vereint Stücke, die allesamt zumindest teilweise im räumlich angrenzenden CC erarbeitet wurden – und erweist sich als fortlaufender Beweis für hohes internationales Niveau.

Nach ungeschriebenem Theatergesetz trägt das Publikum Schuhe; Socken sind, wenn überhaupt, Tänzer*innen vorbehalten. Hier war es umgekehrt: Die Zuschauer*innen waren eingeladen, sich nach Lust und Laune ohne Schuhe auf dem einladend weichen, cremefarbenen Tanzboden zu bewegen. Die Darsteller konnte man zunächst vorrangig an ihren Sneakers erkennen. Diffuses, gedämpftes Licht, live angepasst an die Bewegungen auf der Bühne, und ein Soundtrack mit Trance-Potenzial vervollständigten einen dämmrigen Kunstraum, dem jede visuelle Orientierung für räumliche Tiefe fehlte. Für den akustischen Part zeichnete Anne Lepère mit einer elektronische Geräusch-Collage auf der Basis menschengemachter Laute verantwortlich.

Veränderung der Spielregeln

Aus dem gemeinsamen Gehen von Darstellern und Publikum entwickelte sich mit lässiger Selbstverständlichkeit eine flüssige Performance, die erst allmählich eine minutiöse choreografische Planung durchscheinen ließ. Fünf – eine Handvoll – gilt als die Zahl von Objekten oder Personen, die man als Zuschauer gleichzeitig im Auge behalten kann. Tumbleweed agierten zu sechst und schafften in dieser Besetzung das Kunststück, immer wieder die unbewusste optische Grenze zwischen Einzelnen und Vielen in einem kontinuierlichen Reigen zu überschreiten.

Wie sich diese Gruppe formiert, ihre Bewegungen einander angleicht, die Spielregeln verändert, Bewegungen behutsam anstößt, variiert, Nähe und Abstand zunächst berührungslos verhandelt, die Bewegungen immer mehr synchronisiert und doch Einzelnen immer wieder Raum lässt – das zu beobachten ist ereignisarm und hoch spannend zugleich. Dabei sind Wiegeschritte, kleine Drehungen, leichtes Aneinander-Vorbei-Winden und behutsame kurze Berührungen im Grunde alltagstaugliches Bewegungsmaterial – umso spektakulärer der choreografische Einsatz.

Zurück auf festem Boden fühlen sich die ersten Schritte in den eigenen Schuhen so ähnlich an wie ein Landgang nach langer Zeit auf hoher See – so sehr hat man sich zumindest im Kopf im gleichen Rhythmus gewiegt wie die famosen Tumbleweed-Künstler*innen. 

 

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